Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Eine Rezension von Michael Mansion
Die Rückkehr nach Reims ist eine subtile Erzählung des Autors von sich selbst und von seinen Bemühungen, einem Milieu zu entfliehen, von dem er sagt, dass es eine Zugehörigkeit festschreibt, auch wenn diese nicht mehr gegeben ist.
Aber dies ist eine zweigesichtige Erkenntnis für jemanden, der dem Proletariat entstammt, was keine Scham bemüht und in einer solchen auch nicht aufgehoben werden muss.
Es ist vielmehr dieses Spannungsfeld zwischen einer Heroisierung des Milieus einerseits, die in den 68ern einen Höhepunkt erlebte und dem praktischen Erleben eines Kindes und Jugendliches, der im Elternhaus die Erfahrung von Hilflosigkeit, banalem Neid und sprachloser Wut erlebt, welche sich zu artikulieren nicht imstande ist und zur Unerträglichkeit steigert.
Der eigene, erkämpfte Bildungsanspruch, erzeugt dabei ein bisweilen verstörendes Gefühl, was in der Adoleszenz eine erhebliche Steigerung durch die Einsicht in die eigene Homosexualität erfährt.
In der Figur des in der Kindheit gehassten Vaters, spiegeln sich die Verletzungen einer doppelten Nicht-Zugehörigkeit, der zum Bildungsbürgertum und der zu einer sog. sexuellen Normalität.
Hierin sieht Eribon den Schlüssel zur Aufarbeitung der eigenen melancholischen Traurigkeiten. Um diese herum wird diese ganze Geschichte erzählt.
Das in der Edition Suhrkamp erschienene Buch hat 237 Seiten und gliedert sich in 5 Kapitel und einen Epilog.
Didier Eribon wurde 1953 in Reims geboren und lehrt Soziologie an der Universität von Amiens. Er gehört zu den wichtigsten Intellektuellen Frankreichs und bezieht regelmäßig Stellung zum politischen Geschehen.
Bücher u.a.: Michel Foucault/Insult and the making of the Gay Self/Der Psychoanalyse entkommen/Gesellschaft als Urteil/Grundlagen eines kritischen Denkens/Une morale du minoritaire
Die soziale Wirklichkeit aus der Sicht derer zu erleben, die im Grunde nur eine (Wahl-) Stimme haben, indem sie die Kommunistische Partei wählen, hat sich Eribon sehr anschaulich vermittelt und er fragt, von wem sich die real Ausgebeuteten heute eine Hilfe erhoffen dürfen.
Der Vater habe sich stets diebisch über den einen oder anderen stalinistischen Apparatschik gefreut, wenn dieser, die Spielregeln der 70er Jahre missachtend, auf eine Weise Partei ergriff, wie dies in der aktuellen und von Unterwerfung gekennzeichneten Medienwelt nicht mal mehr ansatzweise vorstellbar ist.
Das ökonomische Überleben, die alltägliche und bisweilen auch körperlich schwere Arbeit der Mutter, die Nachkriegszeit in mehr oder weniger erbärmlichen Verhältnissen, wo sich jede und jeder so gut wie möglich zu behaupten versuchte und wo die erfahrbaren Verletzungen oft dem Umstand geschuldet waren, dass der Egoismus für ein bisschen besseres Leben der Moral auf den Füßen stand. Diese war in Nachkriegszeiten kein bourgeoiser Moralismus, sondern die Bereitschaft, das Wenige ein bisschen gerecht zu verteilen.
Die als peinlich empfundene Armut verursacht psychische Schäden und begünstigt Anpassungszwänge schreibt er.
Der Spannungsbogen zwischen einer marxistischen Idealisierung der Arbeitswelt und der verdrängten aktuellen Wirklichkeit, ließ eine mythische Entität entstehen. In solchen Fällen entsteht eine inadäquate Fiktion von Menschen, deren Lebenswirklichkeit eigentlich zu interpretieren wäre, gilt es doch, den Schematismus aufzubrechen und die Wirklichkeit zu konstituieren.
Eribon geht hier im Grunde mit sich ins Gericht und erkennt den Spagat, der intellektuell zu leisten ist.
Das Proletariat und der von ihm nicht eingelöste Mythos einer revolutionären Veränderung der Verhältnisse, die von ihm hätten zum „Tanzen“ gebracht werden müssen, wurde als frustrative Entfernung von ihm erlebt und mündet in jene schwierige Distanz, die als Des-Identifikation wahrgenommen wird und im Habitus des aktuellen Linksintellektuellen eine Entsprechung findet.
Die Glorifizierung der Arbeiterklasse als dialektisches Mittel einer Abgrenzung von ihr, markiert den Modus einer Subjektivierung, welche der Wirklichkeit (da unbefriedigend) entfliehen möchte.
Die Debatte wird im günstigsten Falle noch als neidgetrieben erlebt und nicht als Prozess der Bewusstwerdung.
Anhand des eigenen erlebten Familiendramas im Elternhaus, gelingt es Eribon ganz hervorragend, den Prozess der sich voneinander entfernenden Lebensweltlichkeiten aufzuzeigen, die im Bildungsanspruch eine Entsprechung finden.
In seiner Kritik an Raymond Aron(1) wird dabei deutlich, wie sehr er gegen jede privilegierte Sicht einer intellektuellen Wohlanständigkeit Front macht, die nichts weiter ist, als der maskierte Hass eines zeitgeistlichen Antikommunismus gegen jedes Aufbegehren, das nach einer Mobilisierung der „Class Populaire“ aussieht.
Seine Milieuflucht bringt ihm den Vorwurf ein, er habe seine Geschwister im Stich gelassen. Eine Wahrnehmung, die ihn schmerzt, wohl wissend, dass er keine andere Wahl hat, als sich in der ihm einzig möglichen Weise zu befreien.
Sein Votum für die „Sans Papiers“ sieht er im Spiegel seines Herkunftsmilieus selbst als Aktion eines realitätsfernen Pariser Intellektuellen, der sich nicht immer so sicher ist, welche Haltung er zu alldem einnehmen soll.
Das Problem der familiären politischen Dissonanz, ist für ihn jedoch nur insoweit relevant, wie es die Zugehörigkeit (zu ihr) angeht.
Seine linke Verortung erfährt dabei kein Hinterfragen jener aktuellen Hintergründigkeiten, welche den Kern der Links/Rechts Dichotomie berühren.
Es bleibt auch ein wenig unbeleuchtet, wenn er von „vielen schwarzen Männern“ schreibt, die (unschuldig?) im Gefängnis sitzen und wo er Disproportionen ausfindig macht, die „in rohen statistischen Daten kulminieren“, in denen kein Sinn zu sehen ist.
Er gibt zu bedenken, in wie weit eine Milieuzugehörigkeit das Wahlverhalten beeinflusst und ob es dann unvermeidlich ist, dass man sich über „Ausländer aufregt, die ins Land eindringen“. Teilt man dann zwanghaft (milieubedingt) die gegen sie gehaltenen Brandreden?
Eribon stellt die Frage, ob es einen permanenten Krieg der herrschenden Eliten gibt, dessen Folgen sich in den Besucherzimmern der Gefängnisse spiegeln, wo er vor allem die unschuldig Benachteiligten und die Migranten verortet.
Mit der Sicht auf die französischen Banlieus als Schauplätze eines verkappten Bürgerkrieges, liegt er wohl richtig. Dies aber ausschließlich als Folge eines anmaßenden Herrschaftsprinzips der bourgeoisen politischen Eliten begreifen zu wollen, kommt in Konflikt mit einer Wirklichkeit, die sich als desintegrativer Faktor der islamischen Herrschaftskultur in die säkular-demokratische Gesellschaft zumindest wissenschaftlich erschließt und (nicht nur in Frankreich) allgemein zu besichtigen ist.
Es hat den Anschein als sei die Reaktion Eribons im Umfeld des sog. Flüchtlingsthemas der eigenen Ausgrenzungserfahrung geschuldet, die er als Homosexueller bis weit in die 90er ja noch 20er Jahre als extrem ausgrenzend und kränkend empfand. Das ist hier wohl zu berücksichtigen, weil es einem Intellektuellen von seinem Format nicht entgangen sein kann, in wie weit der Islam als vormodern- antidemokratische Herrschaftskultur das Leben in Frankreich belastet und zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt hat.
Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass er den Islam nur an einer Stelle beiläufig erwähnt ohne Kritik zu üben, jedoch öfter von maghrebinischer Zuwanderung spricht.
Natürlich sind alle Staatsapparate auch ideologisch formiert, aber auch als „temporäre Höllenmaschinen“ (Bourdieu 2) sind sie nicht immer und zugleich Orte der Abwesenheit von demokratischer Substanz oder der Menschenrechte.
Eine durch Zuwanderung entstandene Konfrontation mit einer grund- und menschenrechtswidrigen, religiös verkleideten Ideologie, kann der säkulare Rechtsstaat weder betreiben, noch seinen Bürgerinnen und Bürgern als unvermeidlich aufnötigen, indem er hierzu z.B. mit dem kolonialen Erbe einen moralschuld-begründeten Hintergrund in Szene setzt und auf Erlösung hofft.
Eribon klagt mit Recht über die linken politischen Aufsteiger, denen nichts gleichgültiger ist als das Los der kleinen Leute und er sieht hierin ein Versagen, welches die „Rechte“ in der vorfindlichen Form begünstigt habe.
Eine in die Komfortzone gewechselte Linke als Verräter?
Sie (die Linke) sei mit ihrem Einvernehmen nach rechts gedrängt worden und habe die Klassentheorie quasi eliminiert. Der Rückbau des Wohlfahrtsstaates wurde legitimiert. Man sprach nicht mehr von Unterdrückten, sondern (philantropisch) von Ausgeschlossenen.
Eribon sieht einen gesellschaftlichen Frontenwandel von „Wir da unten gegen die da oben“ zu „Franzosen gegen Ausländer“ und gesteht dem FN (bzw. RN) immerhin zu, gelegentlich ein Ort politischer Notwehr zu sein, wo die Linke soziale Bewegungen wie den archaischen Rest einer überwundenen Vergangenheit behandelt hat.
In der KP hätten die Arbeiter zuvor ihre separate serielle Identität gehabt.
Im FN seien sie Vereinzelte und die Meinung sei nur die von einem Parteikurs gerade eingefangene und geformte Summe ihrer spontanen Vorurteile.
Das Wahlprogramm werde nicht mehr in Gänze unterschrieben, aber die Partei kann dennoch einen Vertretungsanspruch ableiten. Hier ließe sich keine gemeinsam durchdachte gesellschaftliche Praxis entwickeln.
Eine entfremdete Weltanschuung (den Ausländern die Schuld geben) verdränge den politischen (herrschaftskritischen?) Begriff. Die Wähler nähmen es hin, instrumentalisiert zu werden.
Eribons Setzung steht hier für eine klassische linke Sicht, die jedoch einiges übersieht, wenn sie das fraglose Unterschreiben eines Parteiprogrammes für eine politische Heimat voraussetzt und es verwundert außerordentlich, wenn der Autor die Rolle des Islam nicht kritisch im Blick hat.
Wäre die Kommunistische Partei in Frankreich nicht auch zerstritten, sondern eine kongruente und in einem marxistisch-kritischen und aufklärerischen Sinne moderne Partei, dann hätte sie wohl nicht in bekannter Weise abgebaut.
Wenn Eribon ernsthaft glaubt, in den traditionellen weißen Arbeitermilieus einen tiefsitzenden Rassismus deshalb festmachen zu können, weil viele Franzosen in dem für Migranten betriebenen Aufwand eine Bedrohung sehen, deren Kosten man ihnen (wem sonst?) in Rechnung stellen wird, dann bedient er die aktuell neue Definition von Ressentiment, welches zum Rassismus mutiert und sich damit gegen jede Kritik immunisiert.
Warum verweigert er die Einsicht in das offensichtliche Scheitern des Projekts Integration in die Zivilgesellschaft. Warum ergreift er nicht Partei für die einem muslimischen Hass ausgesetzten Juden von denen Tausende bereits Frankreich verlassen haben?
Statt dessen tut er so, als verweigere sich ein großer Teil der Arbeiterklasse einem großen humanistischen Projekt und wähle aus Verstocktheit rechts.
Dass dann die Wahl von linken Parteien (welchen?) gegen den eigenen rassistischen Reflex erfolge, ist auch eine interessante Theorie und vielleicht ein Schlüssel zu den überwältigend guten Beurteilungen des Buches vor allem in Deutschland, wo man entschlossen scheint, sich und den Rest zunächst einmal als potenziell rassitisch zu begreifen, was jedoch durch mediale Umerziehung zum Guten gewendet werden kann.
Es ist ihm aber aufgefallen, dass die neuen Sozialwohnblöcke in Frankreich vornehmlich von Migranten bezogen werden, während städtischer Wohnraum unerschwinglich geworden ist.
Als seine Eltern, die in einem solchen Viertel lebten, die Folgen von Krach, Dreck und Zerstörung nicht mehr ertragen konnten und nach Muizon umzogen, fragt der Autor ernsthaft, ob diese Wahrnehmungen seiner Eltern der Wirklichkeit geschuldet waren oder der Fantasie. Wahrscheinlich beides resumiert er und unterstellt den Eltern Übertreibung.
Es gebe zwar Zu- und Umstände, von denen man genervt sein könnte, aber es frage sich, wie daraus ein „System des politischen Denkens“ entstehen könne, das aus den Untiefen der Gesellschaft stamme.
Nachdem eine spontane Wahrnehmung der Welt als Gegensatz zwischen Franzosen und Ausländern erst einmal in der politischen Sphäre angekommen sei, hätten Kategorien von rassistischen Strömungen und Ressentiments um sich gegriffen.
Was will er damit sagen? Soll das heißen, dass man massive, kulturell präformierte Gegensätze fraglos hinsichtlich ihrer Auswirkungen hinzunehmen hat? Heißt das, dass eine Aufnahmegesellschaft dies kritiklos ertragen muss, weil es Ausdruck und zentrales Element eines Linksseins oder eines neuen Zeitgeistes ist?
Die Eigenschaft, Franzose zu sein, habe als (nationalistisches?) zentrales Element das Arbeitersein oder Linkssein abgelöst.
Der Aspekt ist interessant, denn Eribon beruft sich nicht auf eine koloniale Schuld, die es (moralisch) einzulösen gelte.
Es geht ihm um ein Linkssein als Ausdruck allgegenwärtiger Solidarität mit den Armen, den Unterdrückten und den Entrechteten dieser Welt, welches er in unhinterfragter Grenzenlosigkeit begreift.
Seine Familie habe mit ihrer Flucht (aus den Banlieus) ein Paradebeispiel für den volkstümlichen Alltagsrassismus geliefert und auch dafür, wie dieser sich in den folgenden Jahren verhärtet habe.
Hier geriert sich Eribon aber leider als Wegbereiter der allgemeinen Begriffsverwirrung. Rassische Kategorien hätten zunehmend die sozialen ersetzt.
Wo— bitteschön???
Eine „legitime“ Population besetze ein Territorium und fühle sich von den „Fremden“ vertrieben.
Dieser Reflex richte sich gegen all jene, denen man eine gerechte Teilhabe an der Nation nicht gönne, weil schon die eigene Teilhabe von der Macht der Mächtigen in Frage gestellt werde.
Damit reduziert er das Problem auf eine Neiddebatte und das einer Nation angehörende Volk „besetzt“ das eigene Territorium. Das muss man zweimal lesen, aber es passt in die Zeit und in die Agenda von George Soros und die Devise „no borders—no nations“. Da ist der Autor auf der Höhe der Zeit.
An anderer Stelle stellt Eribon die durchaus interessante Frage, woher man eigentlich die Logik ableite, die Arbeiter müssten alle linke Parteien wählen. Das sei im Grunde auch nie so gewesen und die Linke müsse sich – um erfolgreich zu sein – sowohl vom Neoliberalismus lösen, als auch von ihrer eigenen Mythenbildung.
Das ist wohl wahr, aber welchen Mythos meint er. Es gibt nämlich einige.
Zumindest ist der Mythos vom in jedem Falle schützenswerten Flüchtling ein solcher, weil die Mehrzahl der mit ihnen konfrontierten Arbeitnehmer sehr schnell auf den Boden der realistischen Betrachtung gelangen, wenn sich ihnen das Bild einer vormodernen, demokratie- und menschenrechtsfeindlichen „Ordnung“ offenbart, was dem Autor bislang offensichtlich erspart geblieben ist.
Er erkennt jedoch, dass die oft beschworene Gleichheit aller Menschen, die von gleichen Kompetenzen ausgeht, letztendlich alles andere als emanzipatorisch ist, weil nicht gefragt wird, wie und wodurch bestimmte Haltungen entstehen, wobei sich um die „gleichen“ Kompetenzen auch trefflich streiten ließe.
Er erkennt blinde Flecken, verdinglichende Ideen und phantasmagorische Repräsentationen, wenn etwa eine unreflektierte „Rückkehr zum Marxismus“ gefordert wird, die wie eine mythische Beschwörungsformel daher kommt.
Wer verortet sich aus welchen Gründen auf welcher Seite des politischen Spektrums? Das müsste man mal genauer untersuchen!
Wenn sich die Linke unfähig erweise, einen Resonanzraum zu organisieren, wo solche Fragen diskutiert und Sehnsüchte und Energien investiert werden können, dann ziehen Rechte und Rechtsradikale diese Sehnsüchte und Energien auf sich.
Das kann man so sehen, auch wenn es mal ganz gut wäre zu definieren, wer wann und warum rechts oder rechtsradikal ist. Das schafft man aktuell in Deutschland schon, wenn man die Klimatheorie der Grünen anzweifelt.
Aber welche schlimmen Leidenschaften macht Eribon in der „populären Klasse“ ausfindig, von denen er berechtigt glaubt, sie nicht einfach ausmerzen oder neutralisieren zu können?
Hat jemand gefordert, die Migranten kollektiv zu töten oder in Lagerhaft zu nehmen? Wurde eine Theorie lanciert, wonach sie als minderwertig einzustufen sind?
Oder mal anders gefragt: Welchen positiven Beitrag leisten die Migranten mehrheitlich, im Hinblick auf eine/ihre Bereitschaft, sich kulturell in die (in diesem Falle) französische Gesellschaft wenn möglich bereichernd einzubringen? Welchen?
Von einer großartigen Offenheit ist Eribon dort, wo es ihm um einen Rückblick auf das geht, was er einen ständigen Wandel von Rollen und Identitäten im Universum der von ihm erlebten gesellschaftlichen Zerrissenheit nennt und erlebte.
Der ständige Wechsel von einer Welt in die andere als ein fast unmögliches Unterfangen, beide Sphären, Familie und Welt, irgendwie zusammenzuhalten.
Das schulische Umfeld war durch seine Prägung durch die Bürgerkinder eine besondere Herausforderung zwischen Auflehnung und Unterwerfung.
Absolut lesenswert sind Eribons Anmerkungen zu seiner Zeit als Philosophiestudent, wo er mit einem durch und durch bourgeoisen Apparat konfrontiert war, dem jeder über das zulässige Maß hinaus reichende Gedanke grundsätzlich verdächtig war.
Man sei dort niemals über den Existentialismus hinausgelangt, und zugleich niemals hin zu Lévi Strauss(3), oder Jaques Lacan(4). Erst recht nicht erwähnt wurden Althusser(5), Foucault(6), Derrida(7) oder Deleuze(8).
Das sich stellende Problem war jedoch zugleich sehr banal, weil Eribon seinen Lebensunterhalt selbst verdienen musste.
Schließlich schaffte er es, durch besondere Leistungen ein sog. Studiengehalt zu bekommen, zog zu Hause aus und nahm sich ein Zimmer in Paris, wo er hoffte, die Legenden seines intellektuellen Engagements zu treffen.
Sein beeindruckender Werdegang hat ihm viel Disziplin abgenötigt und ein erneutes Scheitern bei der sog. Auswahlprüfung war frustrierend.
Der ständige Kampf um eine Selbstverwirklichung bei einer abweichenden sexuellen Orientierung und innerhalb der Wissenschaftsdisziplin im Umfeld einer apparativ-reaktionären universitären Innenwelt, war nur aus einer überlegenen Position heraus zu gewinnen, die aber erworben werden musste.
Auch die Verortung im trotzkistischen Milieu war hier nicht sonderlich hilfreich, zumal man dort zutiefst heterosexuell orientiert war.
Zwei gelebte und im Grunde unvereinbare Identitäten, welche den Unterwerfungsnormen einer „geltenden Ordnung“ gelegentlich auch durch körperliche Bedrohung ausgesetzt waren.
Eribons Klage hierüber ist wohl berechtigt, wenngleich er durch seine Einbeziehung von Juden, Schwarzen und Transsexuellen, die er mit einer kulturellen Verdammnis behaftet sieht, gerade bei den Ersteren konstatieren müsste, dass sie von Franzosen eher nicht zur Flucht veranlasst werden.
Kann es vielleicht sein, dass eine ihrer eigenen Identität nicht (mehr) sichere Gesellschaft den Tabubruch als aggressive Subjektivierung nutzt, um sich wenigstens noch jener fragmentarischen Identität zu versichern, die ihre Entsprechung im physischen Angriff auf das vermeintlich „Nicht-Zugehörige“ findet?
Eribon schreibt:
„Ich könnte mir die metaphernreiche, blühende Sprache Genets zu eigen machen und schreiben, dass irgendwann die Zeit kommt, wo man den Rotz, mit dem man bespuckt wird, in Rosen verwandelt, die Beschimpfungen in Blumenkränze und Sonnenstrahlen.
Es ist der Moment, in dem die Schande in Stolz umschlägt….“
Der folgende Satz aus Sartres Genet sei entscheidend für ihn gewesen, schreibt er weiter:
Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.
„Er wurde zu einem Prinzip meines Lebens, zur Maxime der Askese, einer Arbeit am Selbst“.
Ein lesenswertes Buch, das seine Stärken dort hat, wo es persönlich und intim ist. Eribons Haltung zur Migration als einem zentralen gesellschaftlichen Thema, ist derweil aus realistischer Sicht kritikwürdig und hat wohl gerade deshalb in der deutschen Leitmedien-Kritik eine Ovation von Lobeshymnen zur Folge gehabt.
Didier Eribon:
Rückkehr nach Reims
Edition Suhrkamp
ISBN 978-3-518-07252-3
€ 18,00
Anhang:
- Raymond Aron: 1905 – 1983
Französischer Philosoph und Soziologe mit den Hauptarbeitsgebieten Geschichtsphilosophie und Erkenntnistheorie.
Bücher u.a.:
Liberté et Egalité/ La revolution introuvable/ La lutte des classes/Penser la guerre Clausewitz - Pierre Bourdieu: 1930 – 2002
Französischer Soziologe und Sozialphilosoph / Habitustheorie und Kapitalbegriff als Fortentwicklung der Marxschen Theorie
Bücher u.a.:
Der feine Unterschied/ Die männliche Herrschaft/ Entwurf einer Theorie der Praxis/ Was heißt Sprechen/ Sozialer Sinn - Claude Lévi Strauss: 1909 – 2009
Französischer Ethnologe / Gilt als Begründer des ethnologischen Strukturalismus
Bücher u.a.:
Traurige Tropen/ Das wilde Denken/ Die elementaren Strukturen/ Das Rohe und das Gekochte/ Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft - Jaques Lacan: 1901 – 1961
Französischer Psychiater und Psychoanalytiker / Neuinterpretationen der Schriften S. Freuds
Bücher u.a.:
Das Seminar/ Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse/ The Ethics of Psychoanalysis/ Meine Lehre - Louis Althusser: 1918 – 1990
Französischer Philosoph mit großem Einfluss auf die Weiterentwicklung des Marxismus / Arbeiten über Ideologie und ideologische Staatsapparate
Bücher u.a.:
Die Ideologie und das Ideologische/ Für Marx/ Das Kapital lesen (hier als Herausgeber im Kollektiv)/ Lenin and Philosophy/ Montesquieu und Rousseau/ Machiavelli and Us/ The spectre of Hegel - Michel Foucault 1926 – 1984
Französischer Philosoph des Poststrukturalismus, Historiker, Soziologe u. Psychologe / Begründer der macht- und wissenschaftlichen Diskursanalyse / Vornehmlich beeinflusst durch Nietzsche, Marx u. Deleuze
Bücher u.a.:
Überwachen und Strafen/ Sexualität und Wahrheit/ Wahnsinn und Gesellschaft/ Die Ordnung der Dinge/ Archäologie des Wissens/ Sicherheit, Territorium, Bevölkerung/ In Verteidigung der Gesellschaft/ Die Anomalen - Jaques Derrida: 1930 – 2004
Französischer Philosoph / Gilt als Hauptvertreter der „Dekonstruktion“ als einer Methode von Auflösung der Machtverhältnisse durch Sprache
Bücher u.a.:
Grammatology/ Marx Gespenster/ The gilt of death/ Politik der Freundschaft/ Die Postkarte von Sokrates/ Die Wahrheit in der Malerei/ Acts of Literatur - Gilles Deleuze: 1925 – 1995
Französischer Philosoph / Zahlreiche Veröffentlichungen zu Philosophie, Literatur, Film und Kunst
Bücher u.a.:
Anti Ödipus (mit Felix Guattari)/ Tausend Plateaus/ Differenz und Wiederholung/ Was ist Philosophie/ Das Zeit-Bild/ Logik des Sinns/ Spinoza/ Francis Bacon/ Proust und die Zeichen