Ringo in der Regionalbahn
Bernhard Lassahn
Heute können wir drüber lachen, weil wir inzwischen wissen, dass damals nichts passiert ist. Doch bei ihrem letzten Konzert 1966 in San Francisco mussten die Beatles um ihr Leben fürchten. Es gab ernst zu nehmende Hinweise auf geplante Anschläge. Zur Sicherheit ließ man eine leere Luxuslimousine mit getönten Scheiben am Konzertort vorfahren, während sich die Beatles selbst in einem unscheinbaren Auto versteckt hielten. Außerdem wurde extra ein Polizist abbestellt, der sich stets in der Nähe vom Schlagzeug aufhalten musste.
Ringo erinnert sich – wenn auch ungern –, er hatte sich die bange Frage gestellt, was dieser Polizist wohl täte, wenn auf ihn oder die anderen Beatles geschossen würde. Würde er aufspringen und die Kugeln wie ein Baseball-Spieler auffangen? Die verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen verschafftem ihm nicht etwa ein gutes Gefühl, sondern ein schlechtes. Sie stärkten nicht sein Sicherheitsgefühl, sondern sein Unwohlsein. Ringo ist nicht dumm. Ihm war klar, dass sein persönlicher Schutzmann, den er gar nicht wollte und auch nicht bestellt hatte, keinen Schutz bieten konnte. Er machte ihm nur deutlich, wie ernst die Bedrohung genommen wurde.
Die Beatles hatten nach kurzer Show – ohne Zugabe – geradezu fluchtartig das Stadium im Candlestick Park verlassen. Ihnen war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Es sollte dann auch, wenn man vom Rooftop-Konzert für den Film ‚Let It Be’ absieht, ihr letzter öffentlicher Auftritt gewesen sein.
Man kann Ringo verstehen. Er hatte es mit einem besonderen Gefühl zu tun: Nennen wir es – so lange mir nichts Besseres einfällt – das Ringo-Feeling. Es ist das Gefühl, hilflos einer unheimlichen Gefahr ausgesetzt zu sein, vor der man einerseits eindringlich gewarnt wird, während einem andererseits deutlich gemacht wird, dass man davor nicht geschützt ist.
Dieses Feeling soll nun auch Frauen geboten werden, die auf der Strecke Leipzig-Chemnitz mit der Regionalbahn fahren. Aber nur in kleiner Dosis. Das Feeling ist im Fahrpreis inbegriffen. Die Mitteldeutsche Regionalbahn richtet spezielle Abteile für Frauen ein, die zu ihrer Sicherheit nicht weit vom Dienstabteil entfernt sind.
Damit soll das Sicherheitsgefühl gestärkt werden. So heißt es. Doch es wird aller Voraussicht nach kein gutes Gefühl dabei entstehen, sondern ein schlechtes – wenn auch nicht so schlecht, wie einst bei Ringo. Die Frauen in der Regionalbahn werden sich nicht sicherer fühlen, sondern unsicherer. Denn so blöd sind weder Frauen noch Schlagzeuger. Sie wissen genau, dass ihnen im Notfall kein Schutz geboten wird. Doch so ein Notfall wird heraufbeschworen, er wird als durchaus wahrscheinliche Möglichkeit vorausgesetzt. Die Einrichtung dieser Abteile beweist es ja. Sonst hätte man nicht zu solchen Maßnahmen greifen müssen.
So werden Ängste geschürt. Das ist nicht gut; denn das Schüren von Ängsten ist etwas, das – wie es heißt – nur Rechtspopulisten tun. Und die sollten das nicht tun, sie sollten es bleiben lassen. Doch nun ist es passiert. Frauen wird Angst gemacht. Und dann werden sie mit ihren Ängsten allein gelassen. Es liegen keine Broschüren aus, in denen in mehreren Sprachen die Risiken und Nebenwirkungen beschrieben und Verhaltensmaßregeln für die richtige Nutzung der Abteile gegeben werden.
Was nun? Was sollen die Frauen tun, wenn plötzlich ein privilegierter, älterer, weißer Mann auftaucht, für den Alltagssexismus bekanntlich ganz normal ist? Was sollen sie tun, wenn er anfängt, einen Herrenwitz zu erzählen? Sollen sie ihn aus dem Abteil verweisen, bevor er zur Pointe vordringt? Notfalls mit Gewalt? Sollen sie die Notbremse ziehen?
Und wenn ein Mann kommt, der eine andere Sprache spricht und ein ganz anderes Frauenbild hat als der allseits gefürchtete privilegierte, ältere, weiße Mann – was dann? Wenn es ein Mann ist, der offensichtlich aus einem anderen Kulturkreis kommt, der nicht alt, nicht weiß und nicht privilegiert ist. Ist die Gefahr dann größer? Oder nicht so groß?
Ist so eine Frage überhaupt noch zulässig? Oder gilt sie als rassistisch? Nächste Frage: Ist es zulässig, nachzufragen, ob so eine Frage zulässig ist? Es ist heikel. Denn wir sollen nicht verallgemeinern und pauschal beschuldigen, wir wollen aber auch die Ängste der Frauen nicht banalisieren. Also, wie ist es? Wie groß ist die Gefahr? Von wem geht sie aus?
Bei den Beatles war die Gefährdung konkret. Sie richtet sich nicht gegen Popgruppen im allgemeinen, sondern speziell gegen John Lennon. Man wusste auch, wodurch sie ausgelöst worden war und von wem sie ausging. Der Ku Klux Klan und andere religiöse Gruppen hatten nach der Bemerkung, dass die Beatles populärer seien als Jesus, Rache-Aktionen angekündigt, LPs verbrannt und Beatles-Puppen gekreuzigt. Bei dem Konzert in Memphis wurden Knallkörper auf die Bühne geworfen. Auf ihren Hubschrauber wurden geschossen. Wie wir heute wissen, haben die Beatles überlebt. Dass John Lennon später von einem verrückten Einzeltäter erschossen wurde, konnte keiner verhindern und hatte mit dem damaligen Aufruhr nichts zu tun. Vielleicht war die Gefahr 1966 gar nicht so groß gewesen, wie alle dachten. Vielleicht waren es nur hoch gekochte Gerüchte, von denen sie verrückt gemacht wurden. Vielleicht war es sogar eine makabere Kampagne gewesen, um den Kartenverkauf anzukurbeln.
Feministen sehen sich nicht mehr als Opfer, sondern als Überlebende. Sie haben es bisher geschafft, die „rape culture“, in der sie heute leben müssen, zu überleben, allerdings nicht ohne schwere Schäden zu erleiden. Wehe, es wagt jemand zu behaupten, sie würden heillos übertreiben und das ganze Gekreische und Gejaule wäre nur eine makabere Kampagne, um die Gleichstellungspolitik zu rechtfertigen und neue Straftatbestände für Männer zu schaffen. Wehe, es wagt jemand, zu behaupten, dass Schutzräume „nur für Frauen“ in unseren Breitengraden zu Friedenszeiten ebenso überflüssig sind wie Trigger-Warnungen, die sie davor schützen, ihre traumatischen Erfahrungen noch einmal durchleben zu müssen.
Wir kennen das. Wir haben uns längst an Frauenparkplätze und andere Hysterie-Aufladestationen gewöhnt wie etwa an Bibliotheken, die nur Frauen nutzen dürfen. Die Grünen führen sicherheitshalber „frauenöffentliche“, politische Veranstaltungen durch – Veranstaltungen also, bei denen Männer ausgesperrt werden. Es wird etwas sensibler ausgedrückt; denn natürlich sind solche Veranstaltungen „öffentlich“, da kann grundsätzlich jeder hin, aber sie sind „frauenöffentlich“, es kann also doch nicht jeder hin, nur Frauen. Sonst können sie nicht ungestört Politik für alle machen.
Wenn man zum Arzt geht, sollte man zwei Fragen beantworten können: Wo genau tut es weh? Seit wann sind die Beschwerden aufgetreten? So hat der Arzt eine gewisse Chance, dem Leiden auf die Spur zu kommen und ein Gegenmittel zu finden. Sonst nicht. Sonst kann er nicht helfen. In unserem Fall können die Fragen nicht beantwortet werden. Damit haben wir schon den Sinn der Sache verstanden: Es soll überhaupt nicht geholfen werden. Es wird keine Linderung angestrebt. Es soll nur gegen Männer gehetzt werden.
Man könnte sich ja ernsthaft Gedanken zum Thema machen. Haben wir etwa nur auf der Strecke Leipzig-Chemnitz ein Problem? Auf allen anderen Strecken nicht? Das wäre sehr unwahrscheinlich. Es ist auch nicht so. Soeben wird gemeldet, dass auf der Strecke Osnabrück-Cloppenburg eine 22jährige Frau, die in der Nordostbahn eingeschlafen war, gegen 21 Uhr von einem Fremden flüchtig geküsst wurde. Es sieht also ganz danach aus, als hätten wir auf der Leipzig-Chemnitz-Strecke genauso wenige – oder eben auch genauso viele – Problemfälle wie auf allen anderen Strecken auch. Was nun? Müssen nun überall solche Abteile eingerichtet werden?
Wir wissen, wann die erste Regionalbahn gefahren ist. Das war 1835. Sie fuhr nicht von Leipzig nach Chemnitz, sondern von Nürnberg nach Fürth. Aber ab wann haben sich da die Übergriffe gegen Frauen so gehäuft, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen? Wie bitte? Die haben sich gar nicht gehäuft? Soll das heißen, dass die Maßnahmen überflüssig sind? Sollte man dann nicht erst einmal eine gut bezahlte Studie nachschieben, die beweist wie gefährlich das Leben für Frauen heute ist? Irgendwas mit Statistiken.
Natürlich sollte man etwas gegen echte Bedrohungen tun. Aber was? Wie? Wo? Wäre es vielleicht eine Überlegung wert, auf manchen Strecken zu bestimmten Zeiten (etwa nachts in der S-Bahn in Berlin), Security mitfahren zu lassen? Das wäre zwar aufwendig, aber so könnte man eventuell helfen. Doch wenn die Bedrohung nicht lokalisierbar ist, kann man nichts machen. Wenn die Bedrohung als allumfassend dargestellt wird und gleichzeitig nur punktuell Schutz angeboten wird, ist es so, als hätte man den Leuten eingeredet, dass jederzeit überall Kometen abstürzen können und dass deshalb zur Sicherheit an zwei Orten in Deutschland Unterstellmöglichkeiten eingerichtet werden. Eine in Chemnitz. Eine in Leipzig. Dann sollen sie kommen, die Kometen.
Die Sicherheitsmaßnahmen tarnen sich als Service, doch sie sind hinterhältig und bösartig. Sie führen dazu, dass Männer pauschal als Gefahr für Frauen hingestellt werden. Alle Männer. Leider auch der Schaffner, der sein Abteil ganz in der Nähe hat. Wenn der nämlich auch ein Mann ist, wer sagt denn, dass er nicht Teil der Bedrohung ist? Ringo hatte damals eine böse Ahnung. Er fürchtete, dass sein Polizist ihn, wenn er angeschossen am Boden läge, nicht etwa retten, sondern um ein letztes Autogramm bitten würde. Auch der Polizist war Teil des Wahnsinns, der damals um die Beatles tobte.
Der Wahnsinn liegt in unserem Fall nicht darin, dass alle Männer im Raum Leipzig plötzlich irre geworden sind und wahllos über Frauen herfallen, der Wahnsinn liegt bei einer infamen Frauenpolitik, die alle Männer abstrafen will, als würden sie jedem Mann in einer imaginären Kartei in Flensburg zwei Punkte verpassen. Grundsätzlich. Weil er ein Mann ist. Wenn sich dieser Mann dann etwas zu Schulden kommen lässt, was nur einen Punkt bringen würde – schon ist der Führerschein weg. Männer werden durch solche Maßnahmen behandelt, als wären sie vorbestraft. Sie sind auf Bewährung und stehen unter verschärfter Beobachtung. Das ist der Sinn der Sache.
In so einer Stimmung kann Heiko Maas Gesetze und Verbote durchsetzen, die das Klima noch weiter vergiften. Passend dazu gibt es als schrille Begleitmusik den Hashtag #imzugpassiert. Da wird das Verhalten von Männern im Nahverkehr als skandalös hingestellt. Als Zumutung für Frauen. Das muss man sich mal vorstellen: In Deutschland werden tatsächlich Frauen in der Regionalbahn angestarrt, beobachtet und vielleicht sogar berührt. Da liegt Vergewaltigung in der Luft. Die Zustände schreien zum Himmel. Und wenn die Zustände selber nicht schreien, dann tun es die Frauen.
Deutsche Denunziantinnen muss man nicht lange bitten: Achtung, fertig, Aufschrei. Schon sind die Giftspritzen zur Stelle, schon sprudeln die kleinen, anonymen Beschuldigungen nur so hervor und tun so, als könnten sie ein Gesamtbild zeichnen. Doch ein Hashtag ist nur ein Mückenschwarm, der sich einbildet, er wäre nahrhaft wie ein kleines Steak. Ein Hashtag ist ein Sturm aus Scheiße; der sich aufspielt, als hätte er Beweiskraft und irgendeinen Aussagewert. Dabei wird nur das Lied der Klamaukgruppe mit dem bezeichnenden Namen Erste Allgemeine Verunsicherung angestimmt: „Das Böse ist immer und überall!“
Was passiert denn nun im Zug? Ein Mann schieb vorsichtig die Tür zu dem Sonderabteil auf, in dem zwei Frauen sitzen. „Sind die Plätze noch frei ?Darf ich … ?“, fragt er höflich und rechnet damit, dass ihn die Frauen wie in guten, alten Zeiten anschwindeln und behaupten, sie wären besetzt, auch wenn sie es gar nicht sind. Heute kommt es noch schlimmer.
„Können Sie nicht lesen?“, sagt eine der Frauen und deutet auf das Zeichen „Männerfreie Zone“, mit dem das Abteil gekennzeichnet ist.
„Die anderen Abteile sind leider alle voll“, versucht es der Mann.
„Wenn eine Regel nicht konsequent befolgt wird, braucht man sie gar nicht erst einzuführen“, erklärt ihm die andere Frau. „Und nun ist die Regel eingeführt.“
„In den anderen Abteilen sitzen aber, so viel ich sehen kann, überall Frauen und Männer friedlich nebeneinander …“
„Hier nicht!“
„Ich habe einen Behindertenausweis. Allerdings nur vierzig Prozent.“
Die Frauen schütteln energisch ihre Köpfe.
„Ich habe noch nie einer Frau …“
„Das kann alles noch kommen“, unterbricht ihn eine der Frauen und die andere ergänzt: „Selbst in Ihrem Alter, hi, hi, hi.“
„Ich will meine kranke Mutter besuchen …“, versucht er es weiter.
Doch die Frauen unterbrechen ihn sofort. Sie seien schließlich in Deutschland. Ob er nicht wüsste, wie hier die Frauen in Angst und Schrecken leben müssen.
Er versucht es mit einem letzten verzweifelten Argument: „Ich habe Migrationshintergrund.“
Doch die Frauen zeigen sich entschlossen: „Männer raus!“ skandieren sie. Als er die Glastür zuschiebt und sich zurückzieht rufen sie ihm noch hinterher: „Überprüfen Sie Ihre Privilegien!“ Eine der Frauen kann auch englisch, schließlich leben sie in einer weltoffenen Gegend:
„Scheck juhr Priwilätsches!“
Bernhard Lassahn kann man im Zebrano-Theater in Berlin Live erleben!
Die Dienstagspropheten
Die erste Unplugged-Lesebühne BerlinsSebastian Krämer, Martin Betz, Georg Weisfeld und Bernhard Lassahn zeigen Ihnen heute schon die Zukunft von gestern: Amüsante Kurzprosa, virtuose Lyrik am Harmonium… und jeden Monat einen neuen Gast.
Das alles in einer gemütlichen Runde, jeden 2. Dienstag im Monat im Zebrano-Theater.Mehr über die Dienstagspropheten