Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Nothing is real.
von Bernhard Lassahn
[separator style_type=“shadow“ top_margin=“40″ bottom_margin=“40″ sep_color=““ icon=““ width=““ class=““ id=““]Türkei, Sommer 2016
[dropcap color=““ boxed=“no“ boxed_radius=“8px“ class=““ id=““]K[/dropcap]ennst du das Gefühl, sich aufschäumendes Meerwasser um die Beine spülen zu lassen? Aber ja. Das kennen wir. Es ist Salzwasser in Bewegung. Davon gibt es mehr als genug – es gibt sogar eher zu viel davon als zu wenig. Zugleich ist es Champagner, der so kostbar ist, dass man ihn niemals bezahlen könnte und auch nicht trinken sollte. Man muss schon froh sein, dass man ihn geschenkt kriegt und verschwenderisch damit umgehen kann.Das Wasser ist frisch und zugleich steinalt. Vielleicht sind die Tropfen zu meinen nackten Füßen schon mehrmals um die Welt geflossen, durch das obere Meer, das mittlere Meer und schließlich durch das untere Meer in dem ewigen Wechselspiel zwischen dem Einmaligen und dem Immergleichen. Sie sind womöglich schon in der Straße von Malakka gewesen. Vielleicht haben sie auch an der Südküste der Türkei zum ersten Mal das Land erreicht.
Meine erste Berührung mit dem Mittelmeer hatte ich in Spanien an der Costa Brava. Ich war gerade mal zehn Jahre alt. Das Leben war so aufregend, dass es mir so vorkam, als hätte ich noch nicht bei jeder Gelegenheit das passende Alter für das richtige Leben. Doch ich würde es bald haben. Meine Mutter hatte mich angewiesen, auf jedem Fall mit zugeknöpftem Hemd ins Wasser zu gehen. T-Shirts waren damals noch wenig verbreitet, ich ging also im Hemd ins Meer, um keinen Sonnenbrand auf den Schultern zu kriegen. Das Hemd wurde dann schnell wieder trocken. Kein Problem bei dem Wetter. Damals hatte ich auch zum ersten Mal eine Frau im Bikini gesehen.
Hier sehe ich zum ersten Mal eine Frau im Burkini.
[dropcap color=““ boxed=“no“ boxed_radius=“8px“ class=““ id=““]W[/dropcap]ie man eine Frau im Bikini anschaut – sie dabei nicht allzu neugierig anschaut – wie man sie also ansieht, ohne sie zu übersehen, wie man sie ansieht und gleichzeitig unauffällig an ihr vorbei schaut, als gäbe es da nichts Besonderes zu sehen – das habe ich gelernt. Man darf nicht so gucken, dass es nachher heißt: „Was guckst du?!“ Das kann ich inzwischen. Bei einer Frau im Burkini bin ich noch unsicher und fühle mich wie ein Zehnjähriger, der mit einem zugeknöpften Hemd ins Wasser geht. Eine Frau im Burkini sieht aus, als würde sie in einem Labor arbeiten. Sie trägt ihren vorschriftsmäßigen Plastikkittel, als müsste sie sich vor schädlichen Einflüssen schützen, die ich nicht kenne.Meine Tochter wollte mir untersagen, in die Türkei zu fahren. Es hatte gerade erst einen Anschlag auf dem Flughafen von Istanbul gegeben. Sie macht sich Sorgen. Aber – „Hallo?!“ – so weit kommt es noch, dass Töchter ihren Vätern vorschreiben, wo sie hinfahren dürfen. Sie fliegt nach Malaysia, dann nach Indonesien und über Singapur wieder zurück und will mir ausreden, in die Türkei zu reisen.
Es ist alles harmlos. Sie haben hier niedliche, kleine Schilder, dass Schildkröten oder Eichhörnchen mit übergroßen Wuschelschwänzen die Wege in der Parkanlage kreuzen könnten. Na, bitte! Das sind nicht etwa Schilder, die einen Wildwechsel anzeigen, sondern Schildchen für einen Alles-nur-halb-so-wild-Wechsel.
Es ist harmlos, aber nicht echt. Die Hotelanlage erinnert ein wenig an den Palast von Harun al Rashid. Die Jungs tragen T-shirts mit ihren Namen: Sie heißen Özil und Götze. Sie können eine Abenteuerfahrt auf einem Piratenschiff buchen, was nur noch der Abglanz von Abenteuern ist, deren falscher Glanz immer noch nicht erloschen ist.
Wenn ich in zum Sternenhimmel aufblicke, sehe ich Lichter von Sternen, die es längst nicht mehr gibt. Die Sterne sind zerfallen, nur ihre Lichter sind nicht noch erloschen, sie sind immer noch unterwegs zu ihren unzähligen staunenden Betrachtern überall auf der Erde.
Ich kriege eine SMS von meiner Tochter:
[tooltip title=“Belek ist Ort in der Türkei etwa 30 km östlich von Antalya. Der Ort lebt zum größten Teil vom Tourismus.“ placement=“top“ trigger=“hover“ class=““ id=““]Belek[/tooltip] ist auch toll. Da wird ein Bazar aufgebaut, mit Zelten und Laternen. Wunderschöne Frauen in langen Gewändern mit eingewobenen Goldfäden und Glitzerspiegeln servieren Tee. Sie huschen fast lautlos auf Pantoffeln dahin, die vorne spitz zulaufen und nach oben weisen, wie sie einst der kleine Muck in einem äußerst eindrucksvollen Theaterstück hatte, das ich als Kind gesehen habe, an dessen Titel ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann. Den eiligen Touristen aus Deutschland, die knappe 14 Tage gebucht haben, wird so das Gefühl gegeben, sie wären tausend und eine Nacht hier und wären außerdem in ihren Träumen schon mal als Kind hier gewesen.Geh nicht aus dem Hotel.
Es wird geschossen.
Es gibt Krieg.
Oder einen Putsch.
Die Nachrichten sagen nichts Genaues.
Jakarta ist toll.
Liebe Grüße.
Feilschen will gelernt sein
[dropcap color=““ boxed=“no“ boxed_radius=“8px“ class=““ id=““]N[/dropcap]atürlich muss man feilschen. Ich weiß inzwischen, wie das geht: Man hört den Preis, stöhnt auf, geht in die Knie und jammert: „Ich habe zwei Kinder zu versorgen, ich weiß nicht, wie ich die nächste Rechnung bezahlen soll“.Dann geht der Händler in die Knie und ringt mit den Händen: „Ich habe sechs Kinder zu versorgen, ich weiß nicht wie ich die nächste Rechnung bezahlen soll und auch nicht die übernächste und nicht die danach“.
Es ist ein Spiel, bei dem einer wie ich nur verlieren kann. Der Verkäufer hat stets mehr Kinder zu versorgen und mehr Rechnungen zu zahlen. Er geht etwas im Preis runter. Ich verkneife mir die Bemerkung: „Warum nicht gleich so?!“
Ich will wissen, ob die Markenklamotten gefälscht sind. Natürlich sind sie das. Sie sind sogar supergut gefälscht. Beste Ware. Er wirkt beleidigt, dass ich das überhaupt in Frage stellen konnte. „Kann ich auch“, will ich wissen, „ein Zertifikat haben, dass die Markenklamotten gefälscht sind?“
„Natürlich.“
Was will ich eigentlich mit einem Trainingsanzug, auf dem BOSS steht? Er ist der Boss, nicht ich. Ich bezahle, er kriegt das Geld. Doch ich habe einen heimlichen Gewinn, ich habe nicht nur eine Fälschung gekauft, sondern obendrein die Illusion frischer Jugendlichkeit verbunden mit guten Vorsätzen. Ich tue mit so einem Trainingsanzug so, als würde ich mich fit halten für das Alter. Dabei bin ich schon in dem Alter, für das ich mich hätte fit halten müssen.
Deswegen überlege ich auch, ob ich mir eine Tätowierung machen lassen soll. Denn das Argument gegen eine Tätowierung, dass man nicht wissen kann, ob die später im Alter scheiße aussieht, verfängt bei mir nicht. Man kann in meinem Fall sehr wohl beurteilen, ob die Tätowierung im Alter scheiße aussieht oder nicht, weil ich schon das Alter habe, in dem man das sehen kann.
Gretchenfrage: „Was hält er von Erdogan?“
[dropcap color=““ boxed=“no“ boxed_radius=“8px“ class=““ id=““]I[/dropcap]ch frage den Verkäufer, der inzwischen einer meiner besten Freunde ist, was er von Erdogan hält. Glaubt er, dass der Putsch womöglich nicht echt und nur ein vorgetäuschter Putsch war?Natürlich war er echt. Erdogan ist nur knapp einem Anschlag entgangen. Es ging um Minuten. „He is very clever“, erklärt mein neuer Freund. Er ist nach Istanbul geflogen, nicht nach Ankara. Da hätten sie ihn abgeschossen, da hatten sie schon auf ihn gewartet.
Ich verstehe. Vielleicht muss es in einer Welt, in der wir von Fälschungen umgeben sind, einen Restbestand von Wahrheit geben, an den er glauben kann. Ich verspreche ihm, den Trainingsanzug so oft wie möglich anzuziehen und dabei jedes Mal an die schönen Tage in der Türkei zurückzudenken. Er hat mir nicht nur ein Stück Stoff verkauft, sondern auch ganz besondere Erinnerungen.
Kein Aufruf in Antalya
[dropcap color=““ boxed=“no“ boxed_radius=“8px“ class=““ id=““]I[/dropcap]n Antalya verpasse ich meinen Flug. Das ist mir noch nie passiert. Ich habe es zwar schon soweit gebracht, dass ich namentlich aufgerufen wurde, aber verpasst habe ich einen Flug noch nie.„This is the last call for mister Burn Hard La Sahn, please proceed immediately to gate number …“, ich hatte es gerade noch geschafft. Das war in Sydney. In Düsseldorf habe ich einen letzten Aufruf gehört für Herrn Hans Kantereit. Ich hatte noch überlegt, ob ich schnell zum Schalter gehen und sagen sollte: „Ich kenne Hans Kantereit persönlich, das sieht ihm übrigens ähnlich, dass er seinen Flug verpasst, schönen Gruß von mir, er soll sich mal wieder bei mir melden.“
Ja, ihm sieht das ähnlich. Mir nicht. Ich hatte am falschen Schalter gewartet. Das heißt: Der Schalter war schon richtig, nur die Anzeige war falsch. Das heißt: Die Anzeige war auch richtig, sie war nur nicht mehr aktuell. Der Schalter war schon geschlossen, ich war zu spät gekommen, hatte es aber nicht gemerkt und mich geduldig angestellt, wie es sich gehört. Irgendjemand hatte vergessen, die Anzeigentafel über dem Schalter zu ändern. Da leuchtete immer noch der Hinweis: BERLIN. Das Licht war noch an. Obwohl der Schalter schon geschlossen war.
Der Flug war weg. Ich hatte nun viel Zeit, die nur im Schildkrötentempo verging. Ich habe schließlich ein Souvenir für meine Mutter gekauft. Es war ihr neunzigster Geburtstag. Das heißt: Es wäre ihr neunzigster Geburtstag gewesen, wenn sie noch leben würde. So wie es manche Sterne nicht mehr gibt, ihr Licht aber immer noch strahlt, so hatte mich das Licht der Anzeige über dem Schalter getäuscht. Es war ein Zeichen von meiner Mutter, die ihre Augen schon geschlossen hatte, doch das Licht weiterhin leuchten ließ, um mich daran zu erinnern, dass ich ein zugeknöpftes Hemd anziehen soll, wenn ich im Mittelmeer ins Wasser gehe.