Michael Manson – Rezension:
Vom Ende der Literatur
Die neue moralische Unordnung (Alain Finkielkraut)

Ein wenig Ironie schwingt mit, wenn Alain Finkielkraut im Prolog seine Aufnahme in die Académie Francaise erwähnt, zu welchem Anlass er eine Festrede „Über die Tugend“ gehalten hatte.

Immerhin erfahren wir an anderer Stelle des Buches von seiner politisch eher links konnotierten Vergangenheit auf die er ohne Groll blickt, aber immerhin sei er nach seiner Aufnahme in die Académie fest entschlossen gewesen, künftig jenem Meisterstück kunstvoll-konventioneller und etwas angestaubter Eloquenz möglichst unauffällig aus dem Wege zu gehen.

Tante Céline beherrscht die Welt

Und dennoch war eine Passage aus Prousts Suche nach der verlorenen Zeit bei der Überwindung von Hemmungen behilflich.
Hierbei geht es um Tante Céline, eine Nebenfigur des Romans, die eine Empfindlichkeit und Tugendhaftigkeit an den Tag legt, die sich großer Zukunft erfreuen sollte.

Ihre Worte, so Finkielkraut, seien auf bestürzende Weise prophetisch geworden, denn Tante Céline beherrsche unsere Welt, indem sie bestimme, was wir abzulehnen und wofür wir uns zu begeistern haben.

Der Autor verweilt ein wenig bei Proust, aber nicht nur bei diesem und wir werden von ihm literarisch ein wenig an die Hand genommen bei der Entdeckung von Gesellschaftlichkeit im Spiegel von Literatur.

Literatur ein Schlüssel für das Zeitverständnis

Das Spannungsverhältnis der literarischen Personen im Umfeld von Konvention, Obstruktion, Großmut, Kleinlichkeit, Missverständnis, Irrtum, Rangordnungen und deren Verneinung, dienen als Hinweis, als ein Mittel zum Verständnis von Kultur und Zeitgeist.

Mehr noch ist Literatur hier als ein Schlüssel für ein Zeitverständnis zu verstehen.
In unseren Tagen habe man jedoch den Ballast antiker Weisheit abgeworfen und lässt sich ausschließlich vom eigenen Mitgefühl treiben.

Den Platz des Christentums besetzte eine Humanität mit den Gefühlen von Prousts Tante Céline. Ihr Geist schwebe über den Kulturfestivals unserer Tage. Dabei sei mit Inklusion, Gastfreundschaft und verschwindenden Grenzen das Anliegen immer dasselbe.

Neue moralische Ordnung

Der wehrlose Künstler werde zum Prediger für eine Pflicht zur Brüderlichkeit gegenüber den Migranten. Von der Literatur erwarte man, dass sie die vorgegebene Wahrheit zu illustrieren habe. Auch Museen werden dabei zu demokratisierenden Orten der Inklusion, wo Meisterwerke die verhängnisvolle Vorstellung von Überlegenheit ins Spiel bringen könnten.
Eine neue moralische Ordnung habe sich über das Geistesleben gesenkt.

Alles sei Kultur werde verkündet und gewissenhafte Korrekturprogramme ersetzen chauvinistische Anreden durch „passendere“ und Schneewittchen muss weiterschlafen, weil der Kuss nicht einvernehmlich war. Die neuen Tugendwächter sind Tag und Nacht auf der Hut. Das verehrte Publikum wird gewarnt vor einer Kunst „privilegierter Europäer“.

Die Missetaten und Wunschvorstellungen der letzten Patriarchen gilt es moralisch zu verdammen.
Es geht um die vermeintliche Dominanz, welche die fortschreitende Angleichung aller Lebensverhältnisse verhindert. Kein einziger Lebensbereich komme mehr ungeschoren davon und eine „unaufhaltsame demokratische Leidenschaft“ merze in unserer Kultur alles aus, was ihren Wert ausmache.

Die neuen Moralisten erklären diese Kultur zur Ursache aller Ungleichheiten und ihrer diskriminierenden Praxis.
Mit Tante Céline triumphiere ein Nihilismus des Mitgefühls, sagt der Autor.

Die Obsession der sexuellen Nötigungen, produziert von einer Kampagne, die sich als Teil jener „demokratischen Leidenschaft“ begreift, welche erstmals in der Geschichte den Mann als das entlarvt, was er zwar schon immer war, jetzt aber erst dafür gerade stehen zu habe, gehört für den Philosophen in den Kontext der Geschehnisse.

Die Frau als Opfer

Gedemütigt werden demnach nur die Frauen. Sie sind niemals herrisch, machiavellistisch oder rasende Furien. Die Schwarz-Weiß-Malerei erlaube nur ein Narrativ.

Die Herrschaft des Mannes als Restphänomen zwischen einem Krieg der Geschlechter und bezahlter Leihmutterschaft.
Der literarische Blick auf das Leben, wie etwa bei Balzac oder Kundera, finde nicht mehr statt. Differenzierungen gehen verloren. Die Stunde der Korrektheit habe geschlagen. Man tadelt und stellt richtig. Dabei sei nicht etwa Keuschheit die Obsession, sondern Gleichheit.

Sexualität sei nicht unterdrückt, sondern demokratisiert worden.

Vandalismus im Neofeminismus

Im Neofeminismus sieht der Autor einen Vandalismus, weil er unter großtönenden Ankündigungen männliche Privilegien abzuschaffen, die Sprache bis zur Unkenntlichkeit und Unleserlichkeit entstelle.

Vor dem Hintergrund des Islam, der inzwischen in ganz Europa präsent sei und nicht stigmatisiert werden dürfe, polarisiere unsere Gesellschaft durch ein Übermaß an „Wachsamkeit gegenüber den abscheulichen Stereotypen“ der westlichen Kultur.

Grenzen verschwimmen, wenn von manipulativer männlicher Macht mit dem Stellenwert einer Vergewaltigung gesprochen werde.
Am Beispiel Roman Polanskis sei das offenkundig. Die Schriftstellerin Virgine Despentes vertrete die Meinung, Polanski sei nicht als Filmemacher geehrt worden, sondern als Vergewaltiger.

Damit sei es vorbei verkündet sie und wird für hervorragende literarische Leistungen gewürdigt und damit für ihre fanatischen Verengungen.

Politische Korrektheit

Die politische Korrektheit sei ein neues Kapitel in der Geschichte des schlechten Gewissens (Alain Finkielkraut).
Sie führe ganz nebenbei zu einer ultimativen Scham etwa auch nur ein Mann zu sein. Der Geschlechtsverkehr werde zu einem Gewaltakt stilisiert, während das Mittelmeer vor dem Hintergrund ertrunkener Migranten zum neuen Auschwitz wird.
Dabei sei offenbar unerheblich, dass etwa Frankreich mit jährlich 270 000 gewährten Aufenthaltserlaubnissen und rund 120 000 Asylanträgen eines der aufnahmewilligsten europäischen Länder sei.

„Volksjustiz“ in sozialen Netzwerken

Es gebe eine Links-Kultur, welche das Ziel einer Welt ohne Unterdrückung proklamiert habe, jetzt aber eine Welt ohne Herrschaft anstrebe und es sei diese Herrschaft, die als ein Missverständnis von einer Zeit triumphierender Zügellosigkeit ausgehe und wo jede einverständliche Nähe zur Vergewaltigung werde.

Es folge die pausenlose Demaskierung der Mächtigen. Dabei gerieten die Gefühlswallungen einer moralisierten Öffentlichkeit in Konflikt mit einem Recht, dessen umständliche Sorgfalt empöre.
Eine „Volksjustiz“ breite sich in den sozialen Netzwerken aus. In normalen Zeiten seien Literatur und Recht die Garanten dafür, dass das Besondere nicht im Allgemeinen untergeht.

Wenn allerdings „die mitleidlose Erregung“ auch die Institutionen erfasst habe, dann stelle sich die Strafjustiz in den Dienst der Volksjustiz. Dabei gehe die Staatsanwaltschaft sogar so weit, Ermittlungen zu verjährten Taten einzuleiten.

Der Autor sei nach übelsten Beschimpfungen im Netz gegen ihn vom TV-Kanal, der für seine Sendung: Alain Finkielkraut / en literé verantwortlich sei, vor die Tür gesetzt worden.

Er habe, so Alain.Finkielkraut, angeblich die Opfer beleidigt und die Moral mit Füßen getreten.
Hier sei eine Kulturrevolution in vollem Gange. Die Literatur gerate zunehmend unter Verdacht.

Rassismus, Erniedrigung von Frauen und beendete Karrieren

Da findet die Studentin Elena Mitnik Stücke aus der griechischen Tragödie als für Frauen erniedrigend und es kommt zu einer Affäre. Rassismus-Beschuldigungen stehen im Raum und beenden die Karrière. Die Lage habe sich weiter verschlechtert konstatiert der Autor.

Elena Mitnik habe sich derweil an den US-Universitäten durchgesetzt.
Triggerwarnungen werden ausgesprochen, sobald jemand Euripides oder ähnliche Autoren lesen wolle. In Schweden übe Elena Mitnik ungeteilt ihre Macht aus und ihren Wünschen entspreche auch das Komitee für die Literatur-Nobelpreise.
Autoren wie Philip Roth oder Milan Kundera könnten Orientierung liefern und stehen längst im Focus der woken Kritik.
Es unterscheide uns von den Menschen früherer Zeiten, dass wir Zuschauer geworden seien. Man sei versucht, sich aus flüchtigen Bildern das Wesen von „Etwas“ zu erschließen.

Die USA und ihre afroamerikanische Geschichte seien ein solcher komplexer Fall.

Antirassismus und „kulturelle Aneignung“

Die großen Firmen überträfen sich mittlerweile in ihren Bemühungen um Diversität und dies möglichst publikumswirksam. An den Universitäten, in Presse und Verwaltungen, im öffentlichen Raum und in Hollywood regiere der Antirassismus und sei aktuell bemüht, auch die „Guten“ zu demaskieren. Sie werden zur Rechenschaft gezogen, weil sie von den Privilegien der Vorherrschaft ihrer Ethnie profitieren. Es gibt keinen Weißen mehr außerhalb des Systems weißer Suprematie.

Selbst gut gemeinte Initiativen gelangen in den Anruch der „kulturellen Aneignung“ als einem frevelhaften Übergriff. An den US-Universitäten von Yale, Harvard, oder Berkeley würde man heute einen Autor wie Philip Roth scharf kritisieren, weil er zu weit gegangen sei mit dem Erdenken einer afroamerikanischen Universitätsprofessur.

Die westliche Zivilisation sei in allen westlichen Ländern zum Angriffsziel geworden.

Alle Übel der Welt versammeln sich in ihr. Sich mit toten Europäern auseinanderzusetzen, bedeute nicht mehr von ihnen zu lernen, sondern sie auf die Anklagebank zu setzen.

Abschaffung des Abendlandes

Für die künftige euro-amerikanische Elite gelte, dass Platon, Aristoteles, Homer, Vergil, Dante, Kant, Michelangelo und Beethoven den Angehörigen der herrschenden Rasse ein solches Überlegenheitsgefühl eingeprägt habe, dass sie nun meinen, ihnen sei alles erlaubt. Ihnen müsse man den Mund stopfen, wenn man die Gewalt in der Welt eindämmen will.
Ziel des neuen Antirassismus ist die Abschaffung des Abendlandes innerhalb seiner Grenzen.

Das Gleichheitsgefühl verträgt keine Qualitätsdifferenz, wobei die Fähigkeit des Menschen, sich in Parallelwelten einzurichten, um darin die eigene Existenz zu verklären, eine Lieblingsbeschäftigung radikaler Minderheiten ist.

Finkielkraut fragt, wie es dazu kommen konnte, dass zum 50ten Jahrestag der Schlacht von Verdun Brahms deutsches Requien aufgeführt wurde, man jedoch zum 100ten Jahrestag geplant hatte, den Rapper „M“ mit der Abschlussveranstaltung zu betrauen.
Was habe den Boden vom Requiem zur Fète bereitet? Die Antwort sei. Die Jugend!
Nicht etwa die Jugend als Lebensalter, sondern als Daseinsform.

Der Rapper „M“, um den es hier geht, sei auch nicht irgend ein Rapper, sondern derjenige, der Frankreich als ein Land von Kaffern, von Ungläubigen bezeichnet hatte und in einem seiner Songs wurde sinngemäß dazu aufgefordert, Schwulen den Garaus zu machen und ihnen den Penis abzuschneiden und am Straßenrand liegen zu lassen.

Auf einen diesbezüglichen Hinweis von Fedesouche, einer Webseite, die als rechts gilt, empörte sich die Linke über die Entscheidung einer Absage an den Rapper. Auch die Kultusministerin bedauerte, dass „die wütenden Proteste im Namen einer widerwärtigen und selbstgerechten Moral“ zur Absage des Konzerts geführt hätten.

Uns stehe also noch einiges bevor, meint der Philosoph.

Aurore Bergé, die prominenteste En-Marche-Abgeordnete, hatte in einem anderen Zusammenhang den Tod des Sängers Johnny Halliday mit den Gefühlen der Bevölkerung bei Victor Hugos Staatsbegräbnis im Jahre 1885 verglichen.

Mit diesem Vergleich und den stehenden Ovationen des französischen Parlaments „für unser verstorbenes Idol“ verabschiede sich Frankreich von seiner Identität und verleugne seine literarische Heimat.

Diversität und mehr Einwanderung

Eine Elite sei gegen den Elitarismus angetreten und fordere via EU im Namen wirtschaftlicher Notwendigkeiten moralischer Imperative und den Vorteilen kultureller Diversität mit Beharrlichkeit ständig mehr Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern.

Wenn allerdings Europa seine Bevölkerung verändere, dann führe das zu einem Wandel seiner Identität. In diesem Anti-Elitarismus werde die europäische Kultur verschwinden, so Alain Finkielkraut.
Die neue Elite sei cool und ihr eigenes Kulturerbe interessiere sie nur als anregender Vorgeschmack auf die world-culture, letzlich auf Rock und Rap.

Diese neue Elite halte sich für europäisch, weil sie sich in Berlin und Mailand eher zu Hause fühle als in Limoges oder Valenciennes und sie trage aktiv dazu bei, Europa zu Grabe zu tragen.

Der Philosoph bemüht eine ganze Reihe lesenswerter Beispiele, welche mit dem Begriff Kulturkampf nicht treffend zu bezeichnen wären. Es findet nämlich kein Kampf statt, sondern ein Hinübergleiten in eine umfängliche Prool-Drift.

Nur Rechte verkennen einen Verfall der Sitten

Die Lyrik der neuen Welt als ein Konvolut von pornografischen, frauenverachtenden und vulgären Texten, vorgetragen von einem „Künstler“, auf dessen T-Shirt „Sohn eines Einwanderers, schwarz und schwul“ zu lesen ist.
Es werde allerdings erklärt, man müsse extrem rechts sein, um hier von einem Verfall der Sitten zu sprechen. Das Reich des Hässlichen wachse unaufhörlich, so Finkielkraut.

Es gibt bei Alain Finkielkraut. eine interessante Deutung dessen, was er als das Wesen des Kommunismus oder eines Linksseins deutet.
Dieses beruhe auf der arroganten Gewissheit, den Gang der Dinge zu verkörpern.

Die Linke habe den Begriff Kommunismus aus ihrem Vokabular gestrichen und durch Demokratie ersetzt. Dies jedoch nicht im Sinne gemeinsamer politischer Beratung, sondern in progressistischer Bedeutung aufgeladen.

Der Autor habe sich vom Linkssein nicht abgewandt, um ins Lager der Privilegierten zu wechseln, aber er habe ich geweigert, sich Entwicklungen zu fügen, die im Namen des Fortschritts dogmatisiert werden.

Der Mai 68

habe weder seine Feinde noch seine Kinder gefressen. Es sei auch keine Revolution gewesen, sondern eher ein Innehalten. Es habe gute und ganz erbärmliche Parolen gegeben.

Der Mai 68 sei ein Triumph der Spontaneität über Konventionen gewesen. Allerdings sei der zivilisierte Umgang miteinander problematisch geworden und Rüpelhaftigkeit habe das Zusammenleben vergiftet.
Milan Kundera habe 68 als eine Jugendrevolte gedeutet. Der Prager Frühling sei dagegen eine Sache von Erwachsenen gewesen.

Der fulminante Aufstieg des Antielitarismus habe in den 68ern begonnen und der Begriff Kultur selbst sei angezweifelt worden.
„Alle Menschen sind gleich“ wurde zur nihilistischen Feststellung. Das Verbot eines Theaterstückes von Mickiewicz hatte eine Studentenrevolte in Prag ausgelöst, welcher der Prager Frühling gefolgt sei.

Kunderas Kommentar hierzu stellt ab auf die geglückte Verbindung von Kultur und Leben, welche den Aufständen in Mitteleuropa eine ganz eigene Schönheit verliehen habe, die uns immer wieder in ihren Bann ziehen wird.

Die selbsternannten Kosmopoliten, die das 68er Erbe für sich beanspruchen, seien in Wahrheit provinziell, ja narzisstisch und als Verächter einer Identitätsverengung beschränkt auf ihre kleine Welt.

Linke Doppelstandards

A.F. erwähnt eine gewisse Mila, die sich im Internet als antireligiös und islamverachtend präsentiert. Die Folge sind Beschimpfungen und Todesdrohungen. Die Antwort des Zentralrates der Muslime in Frankreich lautet, sie sei selber schuld und müsse jetzt die Folgen tragen.

Der herrschende Linksliberalismus reagiere abwiegelnd bis kritisch auf Milas Äußerungen, die als überflüssig und blasphemisch gedeutet werden.

Antirassismus sei zum Alibi für Unterwerfung geworden. Man streckt die Waffen aus „Menschlichkeit“.
Der Autor verweist auf seinen Versuch in „Die Niederlage des Denkens“ die Welt als Schauplatz einer furchtbaren und lächerlichen Auseinandersetzung zwischen Fanatikern und Zombies deutlich werden zu lassen. Zu warnen sei vor einem Bedürfnis, im Sieg über das Schamgefühl eine Bühne schaffen zu wollen um „jemand“ zu sein.

Wir sollten auf der Hut sein, um nicht das Opfer von Intrigen zu werden. Das allumfassende Misstrauen werde zum Kitt des Zusammenlebens.

Am Beispiel von Notre Dame

spricht Alain Finkielkraut von der Zivilisation, die sich in den Dingen verkörpere als greifbare Spur der Vergangenheit und wir ertragen es nicht wenn sie untergeht.

Es wäre die Aufgabe der Politik, unsere rundum verunstaltete Welt bewohnbar zu machen.
Scheußliche Gewerbegebiete und Windradmonster verwandelten sie jedoch in eine Industrielandschaf.
Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, setze auf eine „startklare“ Kathedrale anlässlich der olympischen Spiele 2024 und damit auf ihren touristisch-ökonomischen Wert und nicht ihren kulturellen. Zudem sei der Wiederaufbau durch zeitgenössische Ästhetik bedroht.

Die zeitgenössische Kunst sei nämlich nicht die Negation des Akademismus. Sie sei die Negation der modernen Kunst selbst, sagt der Autor.

„Mit ihren idiotischen Performance-Aktionen, ihren schrillen Spielen und Installationen (…) setzten die Künstler nicht die Geschichte der Schönheit fort, sie setzten ihr ein Ende“.

Von Ausnahmen abgesehen scherten sich zeitgenössische Architekten kaum um den Geist eines Ortes. Sie wollen der Sache lediglich ihren Stempel aufdrücken.

An die Glaspyramide im Innenhof des Louvre habe man sich gewöhnt, aber es sei die Frage, ob Gewöhnung ein ästhetischer Wert sei.

Filmbesetzungen werden „politisch korrekt“ vorgegeben

Die Oskar-Akademie habe am 08. Sept. 2020 einen neuen Kritikerkatalog für die Kategorie „bester Film“ vorgelegt. Dabei müssen die Darsteller einer Haupt- oder wichtiger Nebenrollen einer ethnischen Minderheit angehören. Mindestens 30% der Nebendarsteller müssen aus unterrepräsentierten Gruppen wie Schwarze, Latinos, Frauen LGBTQ+ Personen oder Behinderten bestehen. Das Thema der Haupthandlung muss auf Minderheitengruppen ausgerichtet sein.

Das bedeute, so Finkielkraut, dass sich die Filmemacher in Hollywood ihre Personen nicht mehr frei erfinden dürfen. Durch exemplarische Verbote sollen die Voreingenommenheiten der Zuschauer überwunden werden.

Erneut überlagere hier Propaganda die Kunst. Frankreich befinde sich hierbei mit den USA im Einklang.

Kultur soll glattgebügelt werden

Man werde deshalb auch weiterhin „anstößige“ Buchtitel ändern und das Wort Rasse, das in den Werken von Racine, Malherbe und Péguy einen zentralen Platz einnehme, werde wohl verschwinden müssen. Man werde ganze Manuskripte glatt bürsten bis sie den Normen der Gegenwart entsprechen. Man werde in Büchern keine Wahrheit mehr suchen, sondern das Vokabular im Hinblick auf Prinzipien überprüfen.

Europa verabschiede sich von sich selbst. Die große Korrekturkampagne werde leider kein vorübergehender Wahn sein.
Die Segnungen der Fortschritts verdienen unsere Dankbarkeit, sagt der Autor an anderer Stelle und zitiert Régis Debray mit dessen Hinweis auf die „Bezwingung der Natur und die ihr innewohnende Gewalt“.

Gestern noch habe der Fortschritt die Welt erobert und heute sei er zum unbeherrschbaren Zwang geworden. Alles hänge vom Menschen ab,- sogar das Wetter. Die menschliche Fähigkeit werde zu seinem Verhängnis erklärt. Die Schäden des Fortschritts sollen repariert werden und nun sogar mit die Umwelt verschandelnden Windrädern, die den Menschen einkesseln und Alain Finkielkraut lässt Renaud Camus zu Wort kommen wenn er sage, dass man gegen die Erderwärmung kämpfe, indem man eine infernalische Welt erschaffe.

An diesen Sinnbildern einer Überwältigung des Menschen müsse man Don Quichotte hellsichtig nennen. Allerdings müsse man über den atemberaubenden Optimismus des Pangloss im Candide verfügen, um reale Gefahren für die Umwelt auszublenden.
Zugleich sei die grüne Energie z.B. für Teile der Insel Kreta zu einem ästhetischen Übel geworden. Personen, welche die Windräder ablehnen, werden der extremen Rechten zugeordnet und wachsame Bürger sähen vor ihrem geistigen Auge schon antifaschistische Windräder rotieren.

Bei den neuen ökologischen Amtsträgern sei Poesie nicht gegenwärtig. Vergil, Ronsard, Wordsworth, Hölderlin, Ponge, Bonnefoy und Jaccottet seien verschwunden. Der Anmut der Dinge gelte keine Sorge mehr. Man stelle lieber Elektroroller in den Straßen ab. Das Grün der Grünen sei nicht mehr die Farbe der Natur, sondern es bedeute ressourcenschonende Mobilität, riesige Moscheen und inclusives Schreiben.

Die Tür der Empörung

Diejenigen, die uns vor dem Erstickungstod bewahren wollen, massakrieren die Sprache mit Gender-Doppelpunkten. Die Poesie könne aus der Welt verschwinden und niemand bemerkt es. Den frei gewordenen Platz habe Greta Thunberg eingenommen.
Die aktuellen Auseinandersetzungen bewegen sich zwischen Gerechten und Drecksäcken und treten politisch durch die Tür der Empörung. Wer sich für das Klima engagiere, schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Er oder sie verteidige die Wahrheit und die Gerechtigkeit bei gleichzeitigem Gehorsam gegenüber der Wissenschaft und dem Gewissen.

Die Arroganz, mit der die ältere Generation und ihre Leistungen bisweilen vom Tisch gewischt würden, sollte nach Meinung von Finkielkraut hinterfragt werden.

Die moderne Welt sei eine wesentlich menschengemachte mit alle ihren sichtbaren Auswirkungen. Der Mensch habe nicht nur Technik entwickelt, sondern steuere auch das Ausbrüten von Eiern mathematisch. Er hat Tiere zu seinem Nutzen designt und die Beziehung Mensch-Tier sei zum Politikum geworden. Dies vor allem dann, wenn die Mensch-Tier-Beziehung mit Frauenfeindlichkeit und Rassismus gleichgesetzt werde.

Von „anderen Tierarten“ sei die Rede, wenn Tiere gemeint seien. Es werde argumentiert, man habe mit der Züchtung von Nutztieren gegen die Moral verstoßen. Der Mensch müsse den Glauben an seine Ausnahmestellung abstreifen.
Die Bauern führen zehntausend Jahre Geschichte des Zusammenlebens von Mensch und Tier fort.

Ihr Überleben sei aktuell durch die paradoxe Allianz zwischen radikalen Tierschützern und der Nahrungsmittelindustrie bedroht.
Eine Fleischproduktion aus Zellkulturen könnte die Nutztierhaltung verschwinden lassen und durch Start Up´s ersetzen. Man benötige dann nur noch eine einzige Kuh für die Produktion von 175 Millionen Burgern. So entstehe ein „tugendhafter“ Technokosmos.

Die Philosophie des Romans

sei so etwas wie die Konfrontation mit der Tragödie des menschlichen Daseins, der Tragödie des Jedermann.

Gott hätte wohl besser die Liebe und den Tod nicht zugleich erschaffen dürfen.
Spätestens seit Hegel bestehe die Philosophie in der Anwendung der Vernunft auf alle Gegenstände die uns begegnen. Dieser gängigen Philosophie halte ein Autor wie Philip Roth in all seinen Werken die Widerlegung durch den Roman entgegen. Das, was gewöhnlich eintritt, ist nicht das, was man erwartet hatte und Robert Musil spreche vom „Prinzip des unzureichenden Grundes“.
Roth nehme uns die Illusion einer Notwendigkeit und gebe den Ereignissen ihre Fragilität, das Willkürliche, das Unzeitige und Zufällige zurück.

Die gängige Philosophie in der Tradition Hegels sei unfähig geworden, den Teil an Absurdität zu spüren (…), den die Geschichte verwirkliche. Die rationale Herangehensweise an die Fakten versperre den Zugang zu den faktischen Wahrheiten. Man verstehe überhaupt nichts mehr, weil man alles verstehen will.

Eine erwartbare Verunglimpfung

Der Autor erwähnt auf Seite 203 seine (erwartbare) Verunglimpfung anlässlich seiner Verteidigung des Filmemachers Roman Polanski, wo man ihm eine Verherrlichung der Vergewaltigung vorgeworfen hatte. Das habe bei Radio France zu einer Petition für die sofortige Einstellung seiner Sendung Répliques geführt.

In Frankreich sei man auf dem unheilvollen Wege, sich von einer Heimat der Literatur, zu einer Gesellschaft zu entwickeln, die alles nur noch buchstäblich verstehen will.

Wenn man, sobald man das Gegenteil von dem sage was man denke, Gefahr laufe, beschuldigt zu werden, das zu denken was man sagt, dann geht die kultivierte Phase der Geschichte des Lachens vor unseren Augen zu Ende.

Der Progressismus habe den Kommunismus abgelöst und verewige die Erfüllung des Guten in der Geschichte.
Am 14. Dez. 2019 hatten Demonstranten in Frankreich eine Lebend-Weihnachtskrippe mit dem Ruf „Stoppt die Faschisten“ gestürmt und A.F. fühlt sich an Milan Kundera und seine Betrachtungen zum Glaubensverlust während des Stalinismus erinnert. Der Versuch, das christliche Gedächtnis auszuradieren, habe klargemacht, dass wir einer christlichen Kultur angehören, ohne die wir substanzlose Schatten und geistige Heimatlose wären.

Wir, denen die Prüfungen des Stalinismus erspart geblieben sind, betrachten unser erbärmliches Dasein als geistig Heimatlose, als Zeichen der Öffnung, als Errungenschaft der Freiheit und als heilsame Entwurzelung.
Der totalitäre Staat ist tot“ Es lebe der totalitäre Geist!

Big Brother hat eine neue Adresse.

Er schwebe nicht mehr über der Gesellschaft, meint A.F., er sei ihre Emanation und lasse aufgrund dieser unanfechtbaren Legitimität die neuen Bösewichte der Geschichte verschwinden.

Der Habitus des aktuellen Moralismus klingt, als habe Europa noch bis gestern in der Barbarei gelebt, in dunklen Zeiten, wo man Frauen zur Unsichtbarkeit verdammte, fremde Kulturen missachtete, der Sexismus bis in die Sprache wütete, Homophobie allgegenwärtig war und Minderheiten ständig unter Schikanen litten.

Die „neue Aufgeschlossenheit“ führe allerdings dazu, dass die Gegenwart mit sich allein ist.
Die Klassiker lese man nicht mehr mit Herzklopfen. Die Frage nach Unterschieden münde in sorgfältige Dekonstruktionen.

Der Multikulturalismus sei ein triumphaler Monolog. Die Gegenwart als einsame Monarchie.
Wir seien in ein Zeitalter nach der Literatur eingetreten, so A.F.

Die Zeit einer literarischen Weltsicht sei vorbei. Auch weiter geschriebene wahre Bücher hinterlassen keinen Abdruck, keine Spuren mehr. Die Erziehung der Seele gehöre nicht mehr zu ihren Aufgaben.

Die Nachfahren von Tante Céline

brauchen keinen Shakespeare mehr und das Unwahre ergreift Besitz von unserem Leben.
Eine egalitäre Gegenwart, die sich selbst belügt, verliert sich aus den Augen.

Die Szenarien, die sie laufend produziert, dienen ihr als Literaturersatz. Hierfür stehe ein simplifizierender Neo-Feminismus, schlafwandelnder Antirassismus, systematisches Verdecken der Hässlichkeit wie der Schönheit der Welt durch die Gleichsetzungen rechnerischen Denkens und die Leugnung der Begrenztheit des Menschen.

In ihrem Kampf gegen die Unwahrheit sei die Kunst im Begriff die Schlacht zu verlieren.

Ein sehr lesenswertes und kluges Buch aus der Feder eines französischen Philosophen, den der herrschende Idiotismus unserer Zeit im politisch rechten Lager verorten will.

Alain Finkielkraut
Vom Ende der Literatur: Die neue moralische Unordnung

LMV-Verlag / 214 Seiten
ISBN: 978-3-7844-3656-2
Das Buch hat ein Vorwort von Harald Martenstein, einen Prolog, 28 Kapitel und einen Epilog, sowie ein Literatur und Quellenverzeichnis.