Mansion Buchkritik - Bräuniger

Rezension:
Alain Finkielkraut
Ich schweige nicht / Philosophische Anmerkungen zur Zeit
Eine Rezension von Michael Mansion

Statt eines Vorwortes beginnt das Buch mit einem Gespräch zwischen dem Autor und Peter Sloterdijk1, dem ein ähnliches Treffen vor Jahren vorausgegangen war. Man kennt sich also.

Der von der aktuellen Linken als rechter Ungeist geschmähte A. F. gibt dabei eine hervorragende Kurzform dessen zum Besten, was er auch aus seiner eigenen politischen Vergangenheit in die Linke hineininterpretiert hatte, bevor er sich enttäuscht von ihr abwenden musste. Dies war die scheinbar strahlende Zukunft einer universalen Emanzipation als Direktive.

Kulturrevolution und Cancel Culture – ein Gesprächt mit Sloterdijk

Es ist, so Alain Finkielkraut, vornehmlich diese Linke, die sich mittlerweile zum Ankläger des old white man gemacht hat, der für sie zum Bannerträger einer antiemanzipatorisch-patriarchalen, anmaßenden, sexistischen, frauen- und fortschrittsfeindlichen Kultur geworden ist, die es zu überwinden gilt.

Peter Sloterdijk lässt in diesem Gespräch einen von ihm nicht namentlich genannten chinesischen Professor zu Wort kommen, der sich über die Europäer wundert.

Sie hätten eine Kulturrevolution veranstaltet und dies mit ähnlich verheerenden Ergebnissen wie damals in China und das alles auch noch freiwillig.

A. F. fügt dem hinzu, das alles habe den Anschein, als wolle man die westliche Zivilisation in allen ihren wesentlichen Aspekten als kriminell begreifen, weshalb sie Buße tun müsse.

In Princeton entsorge man bereits feierlich Platon und Aristoteles, um endlich die weiße Vorherrschaft zu beenden.

Amerika habe sogar seinen eigenen Kommunismus erfunden. Die New York Times sei die Prawda geworden.

Eine cancel culture praktiziere Kommunikation durch Exkommunikation (Sloterdijk) und es erfolge eine Art von permanenter Selbstzensur.

Das Gespräch der beiden beleuchtet zahlreiche Aspekte des aktuellen gesellschaftlichen Seins und erwähnt dabei das gerade auch für Frankreich hoch brisante Thema des importierten Judenhasses bei gleichzeitiger medialer Verdrängung und einer euphemistischen Darstellung der Realität, beflügelt von der Angst, man könne die Betroffenen (also die Täter) stigmatisieren. Eine ehemals angesehene Zeitung wie Le Monde lasse ihre Leser in imaginären Welten leben.

Wenn die Feststellung des Geschlechts bei der Geburt eines Jungen oder eines Mädchens als eine bloß performative Zuschreibung gesehen werde, dann verschwinde die natürliche Gegebenheit des Geschlechts und wir befinden uns im Umfeld einer Gegenaufklärung und die Transsexuellen werden zu endgültigen Helden der Emanzipation.

Sloterdijk meint an einer Stelle des Gesprächs, das 21. Jahrh. gehöre wohl dem antiokzidentalen Ressentiment in all seinen Spielarten.

Das im LMV-Verlag erschienene Buch zitiert statt eines Vorwortes ein Gespräch zwischen Alain Finkielkraut und Peter Sloterdijk. Es hat einen Prolog, weitere sieben Kapitel, einen anschließenden Epilog und mit den Anmerkungen 144 Seiten.

Nationale Identität und „kulturelle Aneignungen“

Finkielkraut zitiert den von ihm hoch geschätzten Milan Kundera2 mit seinem Begriff von der Moderne, deren Bedeutung er darin sieht, auf dem ererbten Weg zu neuen Entdeckungen zu gelangen. Alain Finkielkraut glaube auch nicht an einen Verfassungspatriotismus à la Habermas3. Ihm sei klar, dass der Begriff der nationalen Identität auch heute noch verpönt sei, aber mit der Regenbogenflagge, der unbegrenzten Ausweitung individueller Rechte und der bei uns herrschenden multikulturellen Ideologie auch eines Teiles der Intelligenz, transportiere das die polemische Frage, ob eine weiße Übersetzerin eine schwarze Dichterin übersetzen darf.

Einer solchen Entwicklung stehe man hilfloser gegenüber als etwa dem Kommunismus.

Verwerfungen der Sprache

Der häufigste in Belgien aktuell erteilte Vorname sei Mohammed. In Frankreich sei man davon nicht weit entfernt. Der Protest dagegen sei ähnlich schwach wie gegen die Invasion der Sprache durch das „Globish“4.

Für die modernistische Doxa5 sei die Académie Francaise ein Schreckgespenst, welches gelegentlich noch für billige Satire gut sei. Ihre Mitglieder werden als sieche Greise bezeichnet. Das Land scheine seine eigene Sprache nicht mehr zu lieben.

Auch er sei im Mai 1968 von der damaligen Welle der Studentenunruhen mitgerissen worden und habe sich in einer gewissen Radikalität häuslich eingerichtet. Zugleich habe er ein schleichendes Unbehagen empfunden, welches der Subjektivität Risse zugefügt habe.

Die verführerische Vorstellung von einer globalen Lösung der Probleme der Menschheit habe ihren Zauber verloren. Er verdanke es Rousseau, dass er ihn von einer allzu gelenkten Vision von Freiheit und Lust geheilt habe. Zusammen mit seinem Freund Pascal Bruckner6 sei es ihm gelungen, die Lehrmeister-Juroren aus seinen Gedanken zu verbannen. Sogar die Leser habe er gelegentlich vergessen und gelernt, für alle und niemanden zu schreiben.

Dekonstruktivisten, Dogmatiker, Antisemitismus

„Zwischen den Dekonstruktivisten7, die keine Wahrheit unangetastet lassen und den Dogmatikern, die unerbittlich jede Wahrheit aufspüren (…) schien sich eine Allianz anzubahnen. Doch in diesem Falle sei es nicht zum Schlimmsten gekommen“.

Der Negativismus sei derweil nicht tot. Er gedeihe in der islamischen Welt und schleiche sich auch in die Reden des Nachfolgers von Yassir Arafat8. Es sei ein weit verbreitetes Phänomen, den Spieß umzudrehen und die Shoah zum Argument gegen die Juden zu machen. Die Crux der Sache sei dabei, dass die einen den Völkermord leugnen, die anderen wiederum nicht, aber diese empören sich, weil sie ihn als einen Freibrief für die Eroberung Palästinas durch Israel interpretieren.

Das Unrecht, das ihnen (den Juden) angetan worden war, werde zu einem unbegrenzten Kredit, zu einem Freibrief. So werden die Selbstmord-Attentate der Palästinenser zu dem, was Juden getan hatten, als sie sich in die Gaskammern hatten führen lassen. Und selbstverständlich gebe es auch noch jene, welche die israelische Politik ohne Umschweife nazifizieren.

Alain Finkielkraut zitiert eine ganze Reihe hoch angesehener Autoren wie Luis Sepúlveda9, José Saramago10 oder Gilles Deleuze11, die so weit gingen, dem jüdischen Volk für den Holocaust kein Mitleid mehr zugestehen zu wollen, weil es gleiches Unrecht an den Palästinensern verübe.

Die Feindseligkeiten eines großen Teils der schwarzen und arabischen Jugend in Frankreich keinem historischen Antisemitismus zuschreiben zu wollen, meinen etwa auch der Philosoph Alain Badiou12 und der Verleger Eric Hazan und sie argumentieren, all das hänge wesentlich mit den Ereignissen in Palästina zusammen.

Wirkungen in Europa und den US

Finkielkraut meint, die Folgen von solcherlei „Brüderlichkeit“ seien Attacken gegen die Juden in Frankreich.

Die schwedische Europaabgeordnete Cecilia Wikström hatte 2015 anlässlich des Unterganges eines Flüchtlingsbootes auch in Schweden zu mehr Solidarität aufgerufen. Diese Anregung sei nicht unbeachtet geblieben. Malmö, die immerhin drittgrößte Stadt Schwedens sei jetzt judenfrei.

So bereite die Bekämpfung des alten Antisemitismus einem neuen den Weg.

Der Autor gibt zu, er sei mit Julien Benda13 einmal einer Meinung gewesen, wo dieser eine europäische Wesenheit nicht habe sehen können. Die Eigenheit Europas habe für ihn in einer fehlenden Eigenheit bestanden, jedoch zugleich in einem Zusammenhang mit abstrakten universellen Prinzipien.

Es schien die Pflicht geboten, Identität zugunsten von Werten aufzugeben. Der Kontinent müsse, um die Dämonen seiner Vergangenheit zu besiegen (…) in das postidentitäre Zeitalter aufbrechen.

Wut und religiöses Eiferertum seien allerdings spätestens seit 9/11 offenkundig geworden und es seien (nicht nur nationalstaatliche) Mauern entstanden. Religiöse Leidenschaften und Überzeugungen seien wesentliche Antriebsmomente. Mit Klassenkampf habe das alles nichts mehr zu tun.

„Man weigert sich zugleich zuzusehen, wie einem der Nährboden, auf dem man gewachsen ist, entzogen wird, abhandenkommt und man an Ort und Stelle entwurzelt wird“.

Ein solches Element konservativer Besinnung sei kein Überlaufen zu den Rechten. Es sei die Angst vor dem Verlust einer historischen Gemeinschaft.

Es gebe jetzt sogar Institute für die Dekulturation, meint Alain Finkielkraut, während Frankreich und Europa auf den islamischen Fanatismus mit einem egalitären Nihilismus antworte.

Seit seinem Buch „Die Niederlage des Denkens“, habe er sich bemüht, diese Haltung zu bekämpfen und dabei sei er zur persona non grata geworden, die nur noch im Umfeld von Sicherheitsmaßnahmen eingeladen werde. Gelegentlich fühle er sich versucht, das Handtuch zu werfen, mache aber hartnäckig weiter.

A. F. begibt sich auf die Spur einer weitläufigen Betrachtung von Martin Heidegger und dessen Metapher vom „Gestell“ für den gesellschaftlichen Rahmen oder den des Technischen bis hin zur Sprache, wo diese (als „Globish“) den Weg zur Trivialkommunikation als einer endgültigen Humanisierung der Menschheit ebnet.

Zugleich soll dabei der Orthografie ihr „heimtückischer Sexismus“ ausgetrieben werden.

Als seinen Bruch mit Heidegger bezeichnet Alain Finkielkraut dessen Begriff eines Weltjudentums, dem teilweise das Unheil der Neuzeit zuzuschreiben sei. Dort heißt es: „Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassistische, sondern eine metaphysische nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche Aufgabe übernehmen kann“.

Hier sei der Weg zum Schlimmsten vorbereitet.

Der Skandal sei deshalb so evident, weil Heideggers Werk prinzipiell großartig und aufklärend angelegt sei.

Der neue Mensch als universaler Nomade und Apologet der angesagten Kulturvermischung im Warenhaus der Diversität, sei aber auch nur noch ein Gestell, welches judaisiert werde.

Der globalisierte Mensch habe heute das große Los gezogen und werde von der zeitgenössischen Philosophie verehrt, welche die Bindungslosigkeit verherrliche und einem Weltbürgertum schmeichele.

„Ich bin nicht bereit hinzunehmen“, sagt Alain Finkielkraut, „dass Heidegger und Heidegger-Kritiker, den Prozess, der gegenwärtig stattfindet, mit der Aura des Judentums umgeben, um es zu vergöttern oder zu verdammen.“

Das Unstete finde seine Entsprechung eher im Tourismus, den der Autor als eine Erscheinung von Wohlhabenheit begreift, welcher durchaus das Recht auf Weltbetrachtung zustehe. Allerdings sei zu konstatieren, dass die zu besichtigenden Länder und Objekte längst jene Aura verloren hätten, die man sich erhofft habe. Der Dauerbetrieb ganzer Horden, mache aus Besuchern Besatzer. Heideggers Stoßseufzer, man müsse den Tourismus verbieten, dürfe man nicht wörtlich nehmen, aber als gespielte Verzweiflung am Produktions- und Konsumzwang.

Der Demokrat sei bescheiden, habe Albert Camus14 gesagt und er erkenne die Notwendigkeit, sich mit anderen zu beraten, sein Wissen durch das Wissen anderer zu vervollständigen.

Offensichtlich habe sich der Mensch jedoch mit seiner eigenen Pluralität nicht ausgesöhnt. Dass wir damit gescheitert seien, liege an der Demokratie selbst. Die aktuellen Wortführer dieser Demokratie sähen in denen, die sich sträuben, keine Gesprächspartner sondern Hindernisse, bemitleidenswerte Repräsentanten einer untergehenden Welt, Reaktionäre, Obskurantisten15 und Traditionalisten. Der Totalitarismus sei besiegt, doch was er beinhalte, überlebe im Prozess der Geschichte. Der Pranger ersetze den Diskurs.

Es herrsche die Erbarmungslosigkeit eines Prinzips des Exkommunizierens.

Das Buch

Ein außerordentlich lesenswertes zeitkritisches Buch, erschienen im LMV-Verlag [bei Amazon]

Alain Finkielkraut – Ich schweige nicht: Philosophische Anmerkungen zur Zeit

Alain Finkielkraut setzt in seiner Autobiografie den Fokus auf die prägenden Etappen seines geistigen Werdegangs. Der große französische Philosoph greift Themen auf, die ihn sein Leben lang begleitet haben: die 68er-Bewegung, seine jüdische Herkunft, die Rassismus-Debatte oder den Staat Israel. Er setzt sich mit den Gedanken und Anregungen von intellektuellen Wegbegleitern wie Martin Heidegger, Milan Kundera oder Michel Foucault auseinander, philosophiert über seine europäische Identität und über deren Bedrohung durch den Multikulturalismus. (…)

144 Seiten / 20 € / ISBN 978-3-7844-3606-7

 

Anhang

  1. Peter Sloterdijk (*1947 in Karlsruhe) ist ein deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist. Er lehrte bis 2017 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe Philosophie und Ästhetik.
  2. Milan Kundera (*1. April 1929 in Brünn) ist ein tschechisch-französischer Schriftsteller und Universitätsprofessor und war vornehmlich an der École des hautes études en sciences in Paris tätig. Erfolgreichstes Buch: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
  3. Jürgen Habermas (*18.Juni 1929 in Düsseldorf) ist ein deutscher Professor für Philosophie und Soziologie. Er gehört zur Generation der „Frankfurter Schule“ und ist ihr letzter noch lebender Vertreter. Letzte Tätigkeit als Prof. für Philosophie in Frankfurt.
  4. „Globish“ steht als Begriff für eine internationale Kommunikation auf niedrigem Niveau in einem invasiven Englisch, welches andere Sprachen durchsetzt.
  5. Doxa steht für eine „überweltliche Wirklichkeit“
  6. Pascal Bruckner (*15.Dez 1948 in Paris) ist ein französischer Romancier und Essayist. Neben Bernard Lévy, A. Finkielkraut, André Glucksman und Gilles Deleuze gilt er als einer der Vertreter der „Nouvelle Philosophie“.
  7. Dekonstruktivismus ist eine Stilrichtung mit Anspruch auf eine Ablösung der sog. Postmoderne. Zentraler philosophischer Vertreter ist hier Jacques Derrida.
  8. Yassir Arafat (*24.08.1929 in Kairo/gest. am 11. Nov. 2004 in Clamat (Frankreich). 1957 Mitbegründer und späterer Führer der Fatah-Bewegung. Zahlreiche Anschläge und Bombenattentate gegen Israel. Ab 1993 Beteiligung an Friedensverhandlungen mit Israel. 1994 Verleihung des Friedensnobelpreises zusammen mit Shimon Peres.
  9. Luis Sepúlveda (*4. Okt. 1949 in Ovalle (Chile)/gest. am 16. April 2020 in Oviedo (Spanien). Chilenischer Schriftsteller, Regisseur, Journalist und politischer Aktivist.
  10. José Saramago (*16. Nov. 1922 in Portugal/gest. am 18.Juni 2010 auf Lanzarote).Portugiesischer Romancier, Lyriker und Essayist. 1998 Nobelpreis für Literatur.
  11. Gilles Deleuze (*18.01.1925 in Paris/gest. am 04.11.1995 in Paris) war ein französischer Philosoph (siehe: Nouvelle Philosophie), der auch Schriften zu Film und Kunst verfasste. Seine letzten Werke (Anti-Ödipus und Tausend Plateaus) entstanden in Zusammenarbeit mit Félix Guattari. Er beeinflusste auch Personen wie Michel Foucault und Roland Barthes.
  12. Alain Badiou (*1937 in Marokko) ist ein französischer, marxistisch orientierter Philosoph und Mathematiker, sowie Autor von Dramen und Romanen. Von 1969 bis 1999 war er Prof. an der Universität Paris VIII und danach Direktor des Instituts für Philosophie an der École normale supérieure in Paris.
  13. Julien Benda (*26. Dez. 1867 in Paris /verst. am 07.06.1956 in Frankreich) war ein französischer Philosoph Schriftsteller und Vertreter eines anti-irrationalen Kurses im Bereich Philosophie und Kunst in Auseinandersetzung mit Henri Bergson.
  14. Albert Camus (*07. Nov. 1913 in Algier/verst. am 04. Jan. 1960 in Villeblevin (Frankreich) war ein französischer Schriftsteller, Philosoph und Religionskritiker. Er gilt als einer der bekanntesten Autoren Frankreichs.
  15. Obskurantismus ist ein bewusstes in Unwissenheit halten wollen.