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Zeitreise ins Jahr 2014:
Birgit Kelle:
Wissenschaft raus, Ideologie rein?


Sie polarisiert wie keine andere und engagiert sich für eine neue Weiblichkeit abseits von Gender-Mainstreaming und Quoten.

Wolf Jacobs sprach mit der Journalistin und Publizistin Birgit Kelle über sexuelle Vielfalt im Lehrplan, Familienpolitik und Alice Schwarzer. Im letzten Jahr veröffentlichte sie ihren Bestseller „Mach doch die Bluse zu!“ und wurde durch ihre Auftritte in verschiedenen Talkshows einem größeren Publikum bekannt.

Das Interview von 2014 hält immer noch gültige Wahrheiten parat. Es erschien zunächst am 01.04.2014 in einem anderen Onlinemagazin.

JACOBS: Im Internet las ich über Sie als die ‚ebenso geliebte wie gehasste Journalistin Birgit Kelle‘. Wie wirkt das auf Sie? Und aus welchen Gründen glauben Sie, wirken Ihre Aussagen so polarisierend?

KELLE: Ich bin schon lange über das Stadium hinweg, dass mich die öffentliche Bewertung meiner Person persönlich tangiert. Daran muss man sich gewöhnen, wenn man öffentlich klare Standpunkte hält. Diese Polarisierung kommt vermutlich durch mein Thema: Die Frauen- und Familienpolitik. Immer, wenn man sich erlaubt, hier Stellung zu nehmen, rekapitulieren die anderen im Hintergrund ihr eigenes Leben – passt es zu meinen Thesen oder widerspricht es dem? Also nehmen es die Leute persönlich und schalten entweder sofort auf Zustimmung oder auf Angriff. Viele sind dann gar nicht mehr in der Lage zu differenzieren, denn ich werte andere nicht ab, die anders leben als ich, ich verteidige allerdings meinen Lebensentwurf. Das darf man.

JACOBS: Als mehrfache Mutter ist für Sie das Thema Aufklärung in der Erziehung ein sehr persönliches Anliegen. Können Sie Ihre Meinung zu den Bildungsplänen von Baden-Württemberg kurz zusammenfassen?

KELLE: Ich denke, dass Aufklärung in erster Linie in die Familie gehört und dann erst in die Schule, wobei ich gar nicht prinzipiell gegen Sexualkundeunterricht bin. Es ist aber eine Frage der Inhalte, des Alters der Kinder und des Ausmaßes. Was man in Baden-Württemberg gerade versucht, ist eine Ausweitung der Thematik auf zahlreiche Fächer, wobei interessant ist, dass man gleichzeitig das Fach Biologie streichen will, wo doch Sexualität und Fortpflanzung nun wirklich sehr biologisch sind. Man wirft also Wissenschaft raus und holt Ideologie rein. Die Schüler sollen nämlich nicht mehr Toleranz anderen sexuellen Ausrichtungen gegenüber lernen, was völlig in Ordnung wäre, sondern Akzeptanz zeigen. Das ist allerdings Gesinnungsunterricht und hat mit breiter Bildung und Wissenschaft nichts mehr zu tun.

JACOBS: Können Sie uns Ihre Verwendung der Begriffe ‚Toleranz‘ und ‚Akzeptanz‘ in diesem Zusammenhang erläutern?

KELLE: Manchmal hilft ein Lexikon. Toleranz bedeutet, den anderen in seiner Andersartigkeit anzunehmen, ihn deswegen nicht zu diskriminieren, auch wenn man sein Handeln oder seine Lebensweise nicht gut findet oder gar nicht versteht. Das ist auch im christlichen Sinne im Gebot der Nächstenliebe enthalten. Man muss in einer freien Gesellschaft aushalten, dass andere eben anders sind und andere Meinungen haben. Akzeptanz wiederum erfordert vom Wortsinn her ein Gutheißen dessen, was man vorher nicht für gut befand, also einen Seitenwechsel. Und deswegen geht es einen Schritt zu weit und ist auch nicht mehr Aufgabe der Schule. Früher war es Konsens, dass wir in den Schulen den Kindern beibringen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Heute sollen sie in Bezug auf sexuelle Vielfalt nur noch eine einzige richtige Meinung akzeptieren. Das ist nicht mehr Bildung, sondern Volkserziehung und deswegen bin ich dagegen.

JACOBS: Finden Sie, dass die Betroffenen – Eltern und Kinder – bei diesem Thema ausreichend zu Wort kommen?

KELLE: Nein und deswegen schreibe ich ja darüber. Gerade auch aus der Perspektive einer Mutter von vier Kindern. Mir haben inzwischen derart viele Eltern Erfahrungsberichte geschickt über den Sexualkundeunterricht ihrer Kinder und an manchen Orten läuft es völlig aus dem Ruder. Schon in der Grundschule müssen sich manche Kinder mit Sexualpraktiken auseinander setzen und die Eltern sind machtlos, sie müssen es hinnehmen. Das finde ich nicht in Ordnung. Und fragen sie doch mal Kinder, was sie von diesem Unterricht halten. Vielen ist das hochgradig peinlich, in der Grundschule überfordert es sie nahezu, für wieder andere ist es wie ein Weckruf, sich mit einem Thema zu beschäftigen, dass es für sie bislang gar nicht gab. Es ist eine sehr sensible Sache und jedes Kind hat sein eigenes Alter, in dem es Fragen stellt und Antworten will. Das kann man nicht übers Knie brechen.

JACOBS: Die ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen und aktuelle Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth, schrieb in der WELT ‚Über Homosexualität darf man nicht streiten‘. Ist die Debatte über Toleranz gegenüber Homosexuellen zielführend oder sollte es nicht eher um andere Dinge gehen, wenn man von Bildungsplänen spricht?

KELLE: Ich frage mich gerade, wer Claudia Roth die Kompetenz übertragen hat, darüber zu entscheiden, worüber man in unserem Land streiten darf und worüber nicht? Es zeigt sich aber sehr deutlich ihre eigene Intoleranz in diesem Satz gegenüber abweichenden Meinungen. Ich wäre jedenfalls froh, wenn wir uns darüber Gedanken machen, wie Kinder lesen und rechnen lernen und die Schule nicht abbrechen. Wie sie mit dem engen Lehrplan von G8 überhaupt noch dazu kommen, eine breite Allgemeinbildung zu erlangen. Jedes Jahr entlassen wir immer noch Analphabeten aus unseren Schulen, das sind Dinge um die wir uns kümmern müssen.

JACOBS: Eine kurze Frage zu den ‚Regenbogenfamilien‘. Wie denken Sie über gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern? Kann man sie als Chance für unsere Gesellschaft sehen?

KELLE: Als Chance inwiefern? Sie existieren und zwar in sehr geringer Zahl. Und die darin lebenden Kinder sind in der Regel aus einer früheren, heterosexuellen Beziehung. Merke: Auch für Kinder in Regenbogenfamilien braucht es einen Mann und eine Frau, um sie zu zeugen. Sie haben also einen Vater und eine Mutter, leben aber nicht mehr bei beiden. Ich denke, wir müssen einen Weg finden, dass auch diese Väter und Mütter bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützt werden. Vielleicht durch ein Familiensplitting, aber der Idealfall ist für mich immer noch, dass ein Kind möglichst bei Vater und Mutter groß werden kann, denn sie brauchen beide Einflüsse in ihrem Leben.

JACOBS: Wo sehen Sie die Schwerpunkte, die eine konstruktive Bundespolitik für Familien haben sollte?

KELLE: Sie sollte sich an der Mehrheit ausrichten, das haben wir ein bisschen aus den Augen verloren. Die Mehrheit der Kinder, über 80 Prozent, lebt bei den eigenen, immer noch verheirateten Eltern. Diese Familien gilt es zu entlasten. Doch Kinder sind ein finanzielles Risiko geworden: Je mehr Kinder, desto höher ist es. Jeder, der heute noch selbst seine Kinder erzieht, wird spätestens in der Rente dafür richtig abgestraft, obwohl er die Rentenzahler von morgen großzieht. Das sehe ich als den wichtigsten Systemfehler in unserer Familienpolitik und den müssen wir beheben.

JACOBS: Wie sehen Sie die Familienpolitik Kristina Schröders im Rückblick?

KELLE: Viel konnte sie ja nicht bewirken, es fehlte ihr der Rückhalt in den eigenen Reihen, sie hätte noch ein bisschen Zeit gebraucht. Sympathisch fand ich, dass sie eigene Ideen entwickelt hat, sich kritisch mit dem Gender Mainstreaming auseinander gesetzt hat, Jungs erstmalig in den Fokus der Familienpolitik genommen hat und sich gegen eine gesetzliche Quote gewendet hat. Und ich habe vollsten Respekt, dass sie ihr Ministeramt niedergelegt hat, um mehr Zeit für ihre kleine Tochter zu haben. Das war auch ein Signal an die Masse der Frauen, die das ja ebenso tun in Deutschland, die man aber als Heimchen am Herd und unemanzipiert abstempeln darf in unserem Land.

JACOBS: Ein besonders großes Thema in Bezug auf Familien ist ja die finanzielle Situation vieler Familien und Alleinerziehender. Wie kann man dieser begegnen, dass Kinder Zugang z.B. zu Bildung und gesunder Ernährung erlangen?

KELLE: Indem man den Familien Zeit gewährt und Geld. Denn Zeit ist Geld. Jede Stunde, die ich mich um meine Kinder kümmere oder am Herd stehe, um gesund zu kochen, kann ich nicht ins Erwerbsleben investieren. Wir müssen Freiräume schaffen für elterliche Erziehung, stattdessen stecken wir das ganze Geld in Krippen und Ganztagsschulen und zwingen Eltern auf den Arbeitsmarkt, weil ihnen sonst die Karriere den Bach runter geht oder die Altersarmut droht. Wenn wir aber bereit sind, für jeden Krippenplatz pro Kind und Monat Subventionen zu zahlen in Höhe von 1.200 Euro, stellt sich mir die Frage, warum wir nicht bereit sind, auch nur die Hälfte des Geldes direkt in die Familien zu stecken, damit sie die staatlichen Angebote gar nicht brauchen. Aber ich habe mich schon lange davon verabschiedet, in diesem System Logik zu entdecken. Unsere Familienpolitik wird dominiert von falschen Gleichstellungsidealen und leider nicht von den echten Bedürfnissen von Müttern, Vätern und auch Kindern.

JACOBS: Etwas ganz anderes: Ich persönlich habe ja das Gefühl, dass Alice Schwarzer ganz schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Wie stehen Sie zu Alice Schwarzer?

KELLE: Frau Schwarzer hat einiges erkämpft für Frauen. Heute hat es eher etwas tragisches, wie sie immer noch versucht in einer gewandelten Zeit die Deutungshoheit für die Frauenfrage zu halten. Wir brauchen diesen alten Feminismus heute nicht mehr, die Zeiten haben sich geändert. Ich habe als jüngere Frau und Mutter auch keine Lust, mir jetzt nicht mehr von Männern, aber stattdessen von anderen Frauen erklären zu lassen, wie ich mein Leben führen soll. Ich finde es beleidigend, wenn man von meinem Leben als einem ‚überholten Modell‘ redet, das überwunden werden muss. Da sind wir schon fast wieder bei Claudia Roth, die ist ja auch irgendwie die gleiche Generation: Wer gibt diesen Frauen das Recht, darüber zu werten, was für andere das Beste ist? Sie haben erkämpft, dass Frauen selbst entscheiden, ob sie heiraten, ob sie Kinder wollen, ob sie berufstätig sein wollen. Jetzt muss aber auch die Generation der Altfeministinnen lernen, dass diese Frauen, die sie in die Freiheit entlassen haben, möglicherweise ganz andere Vorstellungen vom Leben haben, als sie selbst.

JACOBS: Abschließend möchte ich noch mit Ihnen über die Vereinbarkeit von Job und Familie sprechen. Bei Ihnen scheint dies ja gut zu funktionieren. Wie zufrieden sind Sie mit der Situation in Deutschland?

KELLE: Was bringt Sie zu der Annahme, dass es bei mir funktioniert? Es gibt keine Vereinbarkeit, sondern nur eine Addierung von Familie und Beruf, wenn man ehrlich ist. Mit vier Kindern und einer zunehmenden Berufstätigkeit sind meine Tage ein Chaos, mein Leben anstrengend und das gilt auch für meinen Mann. Wir vereinbaren beides, indem wir auf Freizeit und Geld verzichten. Das ist die Realität und genau das ist auch das Problem für die meisten Familien in Deutschland. Familien reiben sich auf, es gibt keine Atempause für Familie, das Geld muss verdient werden, die Zeit ist knapp. Das werden wir nur ändern, wenn wir endlich einsehen, dass das Großziehen eines Kindes nicht in dem einen Jahr bis zur Kita zu bewältigen ist und der Gesellschaft einen hohen Nutzen und sogar finanziellen Gewinn bringt. Wir behandeln Eltern aber eher, als hätten sie sich ein teures Hobby zugelegt.

JACOBS: Frau Kelle, ich danke Ihnen für das Interview!

Foto: © Kerstin Pukall