Wer sind die Täter?
Was wollen sie?
von Bernhard Lassahn
Was wollen sie?
Charlottenburg kann so schön sein: Die Sonne scheint, ein Eiswagen verteilt kostenlos Eis. Die SPD ist unterwegs und macht bürgernahen Wahlkampf mit dem grundsympathischen Tim Renner, der seine Broschüre, die „Tim Renner Das Rote Album“ heißt, so gestalten ließ, dass sie an ein Booklet einer CD erinnert. Alles bestens. Mailen Sie ihm: tim@bundesrenner.de
Unter dem Track
SICHERHEIT #WIRKLICHMACHEN
heißt es:
„In Charlottenburg-Wilmersdorf hatten wir den ersten großen Anschlag mit islamistischem Hintergrund. Ein in Nordrhein-Westfalen registrierter Asylbewerber raste am 19.12.2016 in einem Lastwagen absichtlich in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz und riss zwölf Menschen aus dem Leben.“
Ich erinnere mich. Ein Freund von mir hatte damals den Weihnachtsmarkt weniger Minuten vor dem Anschlag verlassen. Er glaubt an Schutzengel.
Ein paar Kleinigkeiten hätte ich gerne schon an den ersten beiden Sätzen angemerkt, ich habe mich aber zurückgehalten; das dicke Ende kommt noch. Da heißt es:
„Das perfide Kalkül hinter solchen Taten: Schutzsuchende und Terrorgefahr sollen in einen zwingenden Zusammenhang miteinander gebracht werden. Wir gehen in unserem Bezirk aber nicht in diese Falle.“
Bitte, lesen Sie den Satz noch mal. Was steht da?
Wir haben es inzwischen mit einem Plural zu tun, aus einer Einzeltat sind „Taten“ geworden. Das hat seine Berechtigung. Es war kein Einzelfall. Was im Sommer zuvor in Nizza passiert ist, kann zu „solchen Taten“ hinzugerechnet werden. Die Tätergruppe wird damit größer und undeutlicher, aber ich bin einverstanden, denn alle Täter haben etwas gemeinsam, bei allen steckt etwas „hinter“ ihren Taten.
Dass etwas dahinter stecken muss, ahnten wir schon, als wir von dem „islamistischen Hintergrund“ gelesen haben. Ein „Hintergrund“ sagt zunächst einmal nicht viel aus, er wird aber näher bezeichnet, nämlich als „islamistischer“ Hintergrund, nicht als „islamischer“. Das sagt uns etwas. Immerhin. Inzwischen wissen wir sogar noch mehr: die verschiedenen Täter hatten ein „Kalkül“.
Das Wort wirkt seltsam unangemessen. Warum? Sehen wir selber: Nun wird es abgründig.
Es fällt auf den ersten Blick nicht auf, weil der Satz im Passiv steht und der Täterkreis vernebelt ist, aber genau das steht da: Die Täter hatten das Kalkül, uns eine Falle zu stellen, die darin besteht, uns dazu zu bringen, Schutzsuchende und Terrorgefahr in einen zwingenden Zusammenhang zu bringen.
Das stimmt NICHT. Wenn man in dem Fall überhaupt von einem „Kalkül“ sprechen kann, dann muss man bei den Tätern ein ganz, ganz, ganz, ganz, ganz anderes Kalkül vermuten.
Es werden hier mehrere Dinge himmelschreiend falsch dargestellt. Einerseits wird der Hintergrund „solcher Taten“ nicht verstanden. Andererseits werden diejenigen, denen das „Kalkül“ unterstellt wird, zu terroristischen Tätern gemacht. Das „Kalkül“ passt zu einer ganz anderen Gruppe von Menschen.
Wir ahnen schon, was für eine Gruppe gemeint ist. Nennen wir sie behelfsweise „Rechtspopulisten“. Die tun etwas. Allerdings etwas anderes. Was Tim Renner vermutlich sagen will, ist folgendes: Rechtspopulisten stellen solche Taten so dar, dass sich daraus ein „zwingender Zusammenhang“ zwischen „Schutzsuchenden und Terrorgefahr“ aufdrängt. Ihre „Tat“ bestünde also lediglich in der Interpretation solcher Taten wie dem Anschlag vom Breitscheidplatz.
Ein Unglück kommt selten allein. Auch hier sind mehrere Dinge falsch. Die so genannten Rechtspopulisten hatten nur wenige Möglichkeiten, ihre Interpretation bekannt zu machen. Ihre Sichtweise kommt in den öffentlichen Darstellungen so gut wie gar nicht vor. Wahrscheinlich gibt es Leute, die so einen zwingenden Zusammenhang als Falle stellen wollen, überhaupt nicht. Ich kenne jedenfalls keinen, der nach dem Anschlag am Breitscheidplatz gesagt hätte, dass wir nun endlich den zwingenden Zusammenhang zwischen Schutzsuchenden und Terrorgefahr anerkennen müssten.
Ich bin mir relativ sicher, dass Tim Renner auch keinen solchen Täter kennt. Ich kann mich jedoch an leise Stimmen erinnern, die einen Zusammenhang sehen wollten zwischen Terrorgefahr und unkontrollierter Einwanderung. Aber: „Schutzsuchende“ und „unkontrollierte Einwanderung“ sind verschiedene Dinge. Man kann sich die Frage stellen, ob hier womöglich ein zwingender Zusammenhang zwischen der Hilfe für „Schutzsuchende“ (ich übernehme den Ausdruck, obwohl ich ihn ungeeignet finde) und dem Kontrollverlust an der Grenze unterstellt wird.
Noch etwas ist falsch. Die so genannten Rechtspopulisten, denen eine Aussage unterstellt wird, die sie nicht getätigt haben, hatten höchstwahrscheinlich nicht das Kalkül eines Fallenstellers. Worin sollte überhaupt die Falle bestehen?
Fallen sind gefährlich. Ganz egal wer sie aufgestellt hat. Wie schon Kinder wissen, kann man in Gruben fallen, die man anderen gegraben hat. Es geht hier nicht darum, eine Falle zu beschreiben und vor ihr zu warnen, sondern darum Leuten die Mentalität von Fallenstellern und Heckenschützen unterzujubeln.
Wenn sich überhaupt jemand Gehör verschaffen konnte mit der Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen Terrorgefahr und unkontrollierter Einwanderung geben könnte, dann wollte er damit wahrscheinlich keine Falle stellen, vielmehr wollte er nach Möglichkeiten suchen, der Terrorgefahr zu begegnen. Das vermute ich. Mir graust vor Leuten, die anderen heimtückisches Verhalten unterstellen, ohne dafür einen Anhaltspunkt zu haben.
Wer so einen Zusammenhang vermutet, könnte genauso gut lautere Motive haben. Warum nicht? Es könnte sogar hilfreich sein.
Nein, doch nicht. Es ist nicht besonders hilfreich. Leider. Es ist nicht nah genug am Kern des Problems. Es ist alles noch viel schlimmer.
Wenn wir nicht nur den Täter von Charlottenburg ins Auge fassen, sondern auch den von Nizza und nun auch noch die von Barcelona, dann wird offenbar, dass sie keinesfalls Zusammenhänge erzwingen und Fallen stellen wollten. Die wollten Unschuldige töten. Warum?
Es genügt nicht zu sagen, dass sie einen Hintergrund und ein Kalkül haben. Da ist noch mehr. Viel mehr. Da ist dermaßen viel mehr, dass es vermutlich keine Rolle spielt, ob wir unsere Grenzen besser kontrollieren, ob wir mehr oder weniger „Schutzsuchende“ aufnehmen und noch bessere Integrationsangebote machen.
Wir kennen den Begriff „unterschwellig“ und bezeichnen damit etwas, das zu klein ist, um es wahrzunehmen. Günther Anders hat entsprechend dazu den Begriff „überschwellig“ geprägt. Das ist etwas, das zu groß ist, um es wahrzunehmen.
Die Terrorgefahr besteht unabhängig von unserem Kampf gegen Rechts und von unserer Willkommenskultur. Wir können eins von beiden intensivieren. Oder beides. Oder beides bleiben lassen. Die Terrorgefahr besteht weiterhin. Unsere Politik ist weit von einer Kenntnisnahme des Problems in seiner tatsächlichen Dimension entfernt.