Leitkultur - Faktum Magazin
Artikelserie: Leitkultur
Der kulturrelativistischen Abwehr der Frage nach einer Leitkultur muß entgegengetreten werden, denn sie dient der Öffnung auch gegenüber solchen Kulturen, die mit der unseren kulturunverträglich sind.

Die Wirkungen einer solchen falschen Öffnung sind dann fatal, wie die europäische Immigrationspolitik seit 2015 völlig evident praktisch beweist. Etwas schwächer als die komplette kulturrelativistische Abwehr ist dann der Verweis auf das Grundgesetz. Er ist zwar nicht falsch, aber bei weitem nicht hinreichend. Denn damit wird immer noch sehr, sehr viel ausgeblendet.

Was nun aber bei einer solchen Beschränkung auf das Grundgesetz alles ausgeblendet wird, das soll hier in drei aufeinander aufbauenden Beträgen genauer beleuchtet werden:

  1. ) von Günter Buchholz,
  2. ) von Alexander Ulfig und
  3. ) von Elmar Diederichs.

Leitkultur? Leitkultur!

von Professor Dr. Günter Buchholz

Das Grundgesetz als Leitkultur?

Wenn wieder einmal der von Bassam Tibi eingeführte Begriff der Leitkultur fällt, dann sind zwei Reaktionen zu beobachten. Die einen, die Kulturelativisten, stammeln abwehrend etwas von einem angeblichen Rassismus, die anderen, die liberal-säkularen, ebenso geschichtsvergessenen wie irgendwie aufgeklärten Individualisten reagieren ob ihrer eigenen Prinzipienlosigkeit mit Verlegenheit und Ratlosigkeit, und dann fällt ihnen prompt etwas ein, was es glücklicherweise wirklich gibt, nämlich das Grundgesetz.

Das Grundgesetz also soll die Leitkultur sein, von der die Rede ist, und vielleicht hat Bassam Tibi das Grundgesetz gemeint. Er hat es vermutlich gemeint, denn es gehört durchaus zu diesem Begriff dazu, weniger wegen seines bloßen Textes, so wichtig der auch ist, sondern mehr noch wegen seiner vielfältigen real- und geistesgeschichtlichen Denkvoraussetzungen und Implikationen, die vielfach gar nicht bewußt sein dürften. Sie sollen im folgenden knapp benannt werden.

Das so verstandene Grundgesetz gehört sicherlich zu diesem Begriff der Leitkultur, der nötig ist um zu klären, wer sich an wen anzupassen hat, wenn es um Integration geht, aber lediglich als dessen oberste dünne Schicht. Darunter lagern jedoch weitere mächtige historische Schichten, in denen sich eine mehrtausendjährige Kulturgeschichte sedimentiert hat. Es sind deren fünf an der Zahl. Und sie alle spielen ihre Rolle bei dem, was die Europäer als ihre Kultur wissen, empfinden und wahrnehmen, zumeist übrigens fast bewusstlos, im Sinne allergrößter Selbstverständlichkeit.

Europa – eine historische Betrachtung

Europa hat seinen Anfang genommen durch wechselseitige soziokulturelle Kontakte im östlichen Mittelmeer, zwischen der phönizischen Kultur der Levante, der minoischen Kultur der Ägäis, und der daraus erwachsenen späteren griechischen Kultur mit ihren Stadtsiedlungen entlang der Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers. Diese klassische griechische Welt mündete durch den griechischen Sieg über das persische Großreich in den Hellenismus mit seiner Metropole Alexandria, der für die gesamte Antike, auch die nachfolgende römische, eine kulturell tragende Bedeutung erlangte.

Der griechische Geist, so wie er sich u. a. in Philosophie, Wissenschaft und Kunst darstellte, war die erste Gestalt Europas. Die Römer nahmen ihn auf, schlossen sich an und entwickelten vieles weiter. Bedeutend bis in unsere Gegenwart sind insbesondere das römische Recht, aber auch Philosophie und Literatur. Das sowohl von christlichen wie von griechisch-römischen Einflüssen geprägte Werk des Boethius (ca. 480 – 524 n. Chr.) stellt einen zusammenfassenden Höhepunkt dieser zivilisatorischen Entwicklung dar.1

Die Antike

Die (I) griechische und (II) die römische Antike bilden daher die beiden untersten Schichten von Europa. Sie sind die Grundlagen und das Fundament der europäischen Zivilisation.

Die nächsten beiden Schichten sind (III) das Judentum und (IV) das Christentum, die in ihrer engen, aber in sich widersprüchlichen Verbindung das Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit dominierten, und die darüber hinaus in der neuzeitlichen Philosophie weiterhin eine Rolle spielten.

Die mehr als tausendjährige Geschichte des Judentums, die im Alten Testament erzählt wird, führte bekanntlich zur Regierungszeit des römischen Kaisers Tiberius zu den Ereignissen, von denen im Neuen Testament, auf das sich die späteren Christen berufen sollten, erzählt wird. Dennoch spielt das später so genannte Neue Testament fast vollständig im jüdischen Milieu, und das Alte Testament gänzlich.

Die Trennung zwischen Juden und Christen ergab sich erst durch die Erweiterung der späteren Mission auf Nicht-Juden („Heiden“) durch Paulus (siehe katholische Sicht)2 und diese Trennung hat sich dann geschichtlich nach und nach weiter vertieft.

Das Mittelalter

Im Verlauf des Mittelalters kam es dann über das oströmische Byzanz und das damals maurische Spanien zu einer teilweisen Rezeption und Integration der nicht zuletzt wegen des Brandes der Bibliothek von Alexandria nur fragmentarisch erhaltenen antiken griechisch-römischen Kultur in die jüdisch-christliche. Damit war aber der Widerspruch gesetzt zwischen der griechischen Rationalität und der christlichen Irrationalität: dem vorausgesetzten Dogma, dem Glauben also.

Die Lösung des Widerspruchs wurde durch die spätmittelalterliche Philosophie, die insbesondere Aristoteles rezipiert hatte und durch ihn geprägt wurde, selbst eingeleitet (Nominalismus) und führte dann (V) ausgehend von Descartes zur Begründung der neuzeitlichen, religionskritischen Philosophie der Aufklärung, aus der nach und nach eine neue Wissenschaftlichkeit hervorging, die die Grundlage aller modernen Technologien geschaffen hat. Im Denken ist ihr Kern die moderne Mathematik, und in der Praxis die methodisch kontrollierte Erfahrung (Messung), und eben nicht mehr ein geglaubtes oder vorgegebenes religiöses Dogma, das trotz der Säkularisierung zwar erhalten blieb, aber nur in subjektivierter und privatisierter Form.

Fazit: Was gehört zur europäischen Leitkultur?

Damit sind die fünf mächtigen kulturellen Schichten benannt, deren Substanz wesentlich ist für das, was in die europäische Leitkultur eingeht: der griechische Geist, das römische Recht, also die griechisch-römische Antike, dann, sich damit geschichtlich überschneidend, die in den Wurzeln identische jüdische und christliche Religion, also der geistige Gehalt des Mittelalters, sowie angestoßen durch die Wiederaufnahme antiken Wissens in der Renaissance dessen Kritik durch die Philosophie der Aufklärung einschließlich der modernen Wissenschaft und Technik im Zusammenhang mit der neuzeitlichen europäischen Gesellschaftsgeschichte, die zur Herausbildung von tendenziell säkularisierten, liberalen, individuierten Lebensformen geführt hat.

Aus diesen fünf geschichtsmächtigen Voraussetzungen heraus und – ganz wesentlich! – zusätzlich in Negation der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wurde das Grundgesetz geschrieben.

Damit ist implizit zugleich markiert, was nicht zur europäischen Kultur gehört, alles nämlich, was hier äußerlich bleibt. Dazu gehört beispielsweise die – sehr bedeutende – konfuzianische Kultur Ostasiens, und ebenso die islamische Kultur Arabiens.

Der Islam gehört nicht zu Europa, und er gehört ebenso wenig zu China. Er gehört zu Arabien.

Bemerkenswert ist der Umstand, daß die ostasiatisch-neokonfuzianische Kultur, beginnend mit den Meiji-Reformen in Japan im 19. Jahrhundert, die europäische Kultur nicht nur rezipiert und in sich aufgenommen hat, sondern daß sie seither gut hör- und sichtbar dabei ist, sie schöpferisch zu einer neuartigen Synthese weiterzuentwickeln, während sie zugleich auf die europäische Kultur zurückwirkt. Man denke beispielhaft nur an einen Pianisten wie Lang-Lang.

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Anmerkungen
  1. Vgl. Ulfig, Alexander: Große Denker, Verlag Parkland: Köln 2006, S. 48 ff.
  2. Paulus gilt vielfach als der eigentliche Begründer der christlichen Tradition.
    Zur katholischen Sicht auf Paulus siehe:
    http://www.kathpedia.com/index.php?title=Paulus_von_Tarsus

Der Artikel erschien zunächst bei Cuncti.