Die Wirkungen einer solchen falschen Öffnung sind dann fatal, wie die europäische Immigrationspolitik seit 2015 völlig evident praktisch beweist. Etwas schwächer als die komplette kulturrelativistische Abwehr ist dann der Verweis auf das Grundgesetz. Er ist zwar nicht falsch, aber bei weitem nicht hinreichend. Denn damit wird immer noch sehr, sehr viel ausgeblendet.
Was nun aber bei einer solchen Beschränkung auf das Grundgesetz alles ausgeblendet wird, das soll hier in drei aufeinander aufbauenden Beträgen genauer beleuchtet werden:
- ) von Günter Buchholz,
- ) von Alexander Ulfig und
- ) von Elmar Diederichs.
Die fünf Säulen unserer (Leit-)Kultur
von Dr. Alexander Ulfig
Der Wirtschaftswissenschaftler Günter Buchholz hat in einem bemerkenswerten Artikel zum Thema „Leitkultur“ fünf geistige Strömungen genannt, die die Grundlage unserer Leitkultur bilden:
- die griechische und
- die römische Antike,
- das Judentum,
- das Christentum und
- die Philosophie der Aufklärung,
die mit einer besonderen Form von Wissenschaftlichkeit verbunden ist.
Die Frage nach den Grundelementen unserer Kultur ist angesichts der großen Zahl von Migranten, die nach Deutschland und Europa kommen, von höchster Aktualität. Menschen, die nach Deutschland und Europa einwandern und sich integrieren oder gar assimilieren möchten, müssen die Grundelemente unserer Kultur kennenlernen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Eine Erweiterung der Grundelemente
Ich stimme mit der von Günter Buchholz vorgeschlagenen Aufzählung der Grundelemente unserer Leitkultur überein, möchte sie jedoch um weitere Grundelemente ergänzen. Dabei werde ich die Moderne, also die Epoche zwischen dem 15. Jahrhundert (Ende des Mittelalters) und heute, behandeln. Die in dieser Epoche auftretenden geistigen und gesellschaftlichen Strömungen bestimmen entscheidend unsere Kultur.
Darüber hinaus werde ich den religionskritischen Aspekt der von mir behandelten Strömungen in den Vordergrund stellen. Und das aus folgendem Grund: Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts findet eine „Rückkehr des Religiösen“ , insbesondere das Erstarken des Islam, statt, was einen Rückfall hinter die Moderne darstellt. Die meisten Einwanderer kommen aus islamischen Ländern, sind gläubige Moslems. Somit entsteht ein Konflikt zwischen den nicht-religiösen, atheistischen und vielen Fällen anti-religiösen Konzepten der Moderne und dem Islam.
Nun zu den fünf Säulen unserer (Leit-)Kultur:
1. Die moderne Wissenschaft
Die moderne Wissenschaft seit Francis Bacon (1561-1626) hat den Anspruch, Aussagen (Hypothesen) aufzustellen, die durch Beobachtung und Experiment überprüft werden können. Beobachtung und Experiment bilden die Grundlage der nachprüfbaren Erfahrung: der Empirie. Durch Beobachtung und Experiment können verlässliche Informationen über die Realität gewonnen werden. Sie bilden die sichere Quelle der Erkenntnis.
Aufgrund der mit Hilfe der Beobachtung gesammelten Daten lassen sich Gesetzmäßigkeiten (z.B. Naturgesetze) formulieren. Von besonderer Wichtigkeit sind dabei die Zählung und die Messung von empirisch gewonnenen Daten. Daraus ergibt sich die zentrale Rolle von mathematischen Verfahren für die moderne Wissenschaft.
Die Methoden der Wissenschaft wurden im Laufe der Zeit verfeinert. Das Verfahren der Überprüfung von Hypothesen anhand von durch Beobachtung gewonnenen Daten wurde modifiziert. In der Formulierung einer Hypothese legt der Forscher seine Vermutungen offen und unterzieht sie einem kontrollierten Test an der Realität. Die Hypothese wird in der Konfrontation mit der Realität bestätigt oder widerlegt (vgl. dazu die Arbeiten des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Karl R. Popper), genauer:
Sie wird dann bestätigt, wenn sie einer empirischen Überprüfung standhält, also auf die Realität zutrifft. Sie ist dann widerlegt, wenn sie an der empirischen/beobachtbaren Realität scheitert, ihr nicht entspricht. Dieses Verfahren gilt sowohl für die Natur- als auch die Sozialwissenschaften.
Die moderne Wissenschaft ist per se nicht-religiös. Ihre Erkenntnisse basieren auf nachprüfbarer Beobachtung und nicht auf übernatürlicher, nicht-nachprüfbarer Offenbarung. Das religiöse Weltbild wurde in der Moderne durch das wissenschaftliche Weltbild abgelöst. Religiöse Erklärungen von Naturphänomenen wurden durch wissenschaftliche, auf Beobachtung und Experiment basierende Erklärungen ersetzt. Wenn es regnet, dann ist es kein Wirken einer übernatürlichen Kraft, eines Gottes, sondern ein chemisch-physikalischer Vorgang, der empirisch überprüft werden kann.
2. Die Aufklärung
Sie ist meines Erachtens die wichtigste Säule unserer (Leit-)Kultur. Das Ziel dieser geistigen und gesellschaftlichen Bewegung des 18. Jahrhunderts ist es, die herrschenden, durch politische und religiöse Autoritäten vertretene Meinungen und Normen kritisch zu prüfen und sie gegebenenfalls – falls sie der Prüfung nicht standhalten – zu revidieren oder durch andere zu ersetzen.
Der Mensch soll nicht blind den Meinungen und Dogmen der Autoritäten folgen, sondern selbst nachdenken. Er soll im Denken und Handeln nach Autonomie (Selbständigkeit) streben. Als einziges Richtmaß soll ihm dabei die menschliche Vernunft gelten. Immanuel Kant schreibt über die Aufklärung:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Die Aufklärung ist die Geburtsstätte des modernen Individualismus, denn sie betrachtet den Menschen in erster Linie als Einzelperson und nicht als Repräsentanten eines Kollektivs, und des modernen Liberalismus, denn sie setzt sich für das Ideal der Freiheit (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, unternehmerische Freiheit usw.) ein. Den allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte liegen die Ideale der Aufklärung wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit usw. zugrunde.
Die Aufklärung hat einen dezidiert religionskritischen, ja bei vielen ihrer Vertreter einen anti-religiösen Charakter. Der Mensch soll nach Autonomie streben und sich nicht einer übernatürlichen Macht ausliefern oder unterordnen. Er soll Meinungen kritisch hinterfragen und nicht an etwas dogmatisch, also ohne es zu hinterfragen, glauben. Der religionskritische Charakter der Aufklärung kommt in den folgenden Äußerungen von Paul d’Holbach deutlich zum Ausdruck. Die Funktion der Religion besteht für ihn darin,
„die Menschen durch Schwärmerei trunken zu machen, um sie daran zu hindern, sich mit den Übeln zu befassen, mit denen ihre Herrscher sie hienieden plagen. Mit Hilfe unsichtbarer Mächte, mit denen man ihnen droht, zwingt man sie, schweigend alles Elend zu erleiden, das ihnen von sichtbaren Mächten zugefügt wird. Man lässt sie hoffen, dass sie mit einem anderen Leben glücklicher sein werden, wenn sie sich mit einem unglücklichen Dasein in dieser Welt abfinden“.
3. Der Marxismus.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht darum, ob die Marxsche Theorie richtig ist oder nicht, ob der Marxismus als gesellschaftliche Praxis gescheitert ist oder nicht (er ist gescheitert). Es geht hier vielmehr um die Prägung, die unsere Kultur durch den Marxismus erfahren hat. Der Marxismus hat unseren Horizont, unseren Blick auf die Welt um ökonomische, soziale und gesellschaftliche Aspekte erweitert.
Begriffe und Konzepte der Marxschen Theorie sind zum allgemeinen Kulturgut geworden, z.B. der Begriff des Mehrwerts, der Begriff der Entfremdung, der Begriff der sozialen Gerechtigkeit, die Vorstellung, dass ökonomische Verhältnisse das Denken der Menschen beeinflussen (die ökonomische Basis bestimmt den ideellen Überbau), die Einsicht, dass diejenigen, die über die Produktionsmittel verfügen, einen großen Einfluss auf die Politik haben, die Einsicht, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse das Denken und Handeln der Angehörigen dieser Klasse entscheidend prägt, usw.
Der Marxismus hat einige (formal gefasste) Ideale der Aufklärung mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert. Was brachte im 19. Jahrhundert Menschen aus der Unterschicht das Recht auf freie Wahlen, wenn sie aufgrund ihrer Besitzverhältnisse an ihnen gar nicht oder nur in beschränktem Maße teilnehmen konnten? Was brachte den Unterprivilegierten die Gleichheit vor dem Gesetz, wenn sie gegenüber den Privilegierten sowieso benachteiligt wurden?
Karl Marx ist ein radikaler Religionskritiker. Er entwickelt seine Religionskritik in Anlehnung an den Philosophen Ludwig Feuerbach. Für Feuerbach ist Gott ein Produkt des menschlichen Denkens, genauer: er ist ein Produkt der Projektion (Übertragung) menschlicher Wünsche, Eigenschaften und Fähigkeiten. Der Mensch überträgt seine Wünsche, Eigenschaften und Fähigkeiten auf ein imaginiertes und ihm fremdes Wesen: auf Gott.
Auch für Marx ist Gott ein Produkt des Denkens. Er ist ein rein geistiges, ideelles Gebilde. Marx nennt die rein geistige, ideelle Sphäre Ideologie oder Überbau. Religion gehört zum ideologischen Überbau. Sie ist falsches Bewusstsein, d.h. ein Bewusstsein, das auf seine ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen (auf die ökonomische Basis) nicht reflektiert. Außerdem hat sie für Marx ähnlich wie für Holbach eine (negative) gesellschaftliche Funktion: Sie ist ein Instrument zur Beherrschung und Unterdrückung des Volkes durch die Machthaber.
4. Die Psychonalyse
Auch hier geht es nicht darum, ob die Psychoanalyse als Theorie richtig oder falsch ist, ob sie sich als therapeutische Praxis bewährt hat oder nicht. Vielmehr geht es mir um den Einfluss der Psychoanalyse auf unsere Kultur, auf das Denken und das Selbstverständnis der zu unserer Kultur gehörenden Menschen. Die Einsicht, dass dem bewussten Erleben unbewusste Wünsche und Konflikte zugrunde liegen, ist revolutionär und dient bis heute als Interpretationsmuster psychischer Phänomene.
Für Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, ist das Unbewusste der Ort der in der frühen Kindheit verdrängten Vorstellungen, Wünsche und Konflikte. Die ins Unbewusste verdrängten Inhalte beeinflussen jedoch das Denken und Verhalten des Kindes und später des Erwachsenen, ohne dass sie bewusst vernommen und als Verhaltensmotive erkannt werden. Die unbewussten, verdrängten Inhalte sind Ursachen für die Entstehung von psychischen Störungen. In der psychoanalytischen Therapie sollen die unbewussten Inhalte bewusst gemacht und thematisiert werden. Auf diese Weise können die frühkindlichen Konflikte gelöst werden.
Eine zentrale Bedeutung spielt für Freud die Sexualität. Die Libido (die sexuelle Triebkraft) ist der Motor des menschlichen Verhaltens. Die offene Thematisierung der Sexualität durch Freud formte in unserer Kultur in hohem Maße den Umgang mit diesem Phänomen. Anders formuliert: Dass in unserer Kultur so offen und auf eine bestimmte Art und Weise über Sexualität gesprochen wird, ist zum großen Teil auf die Psychoanalyse Freuds zurückzuführen.
Bereits Freud, aber vor allem Psychoanalytiker und Sozialtheoretiker nach Freud haben das Erklärungsmodell „bewusst-unbewusst“ auch auf gesellschaftliche Phänomene angewandt: Nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch in der Gesellschaft gibt es Mechanismen und Prozesse, die den Menschen nicht bewusst sind (das gesellschaftliche Unbewusste), die ihn jedoch stark beeinflussen (Mechanismen und Prozesse, die mit der familiären, schulischen und akademischen Sozialisation verbunden sind, ferner Beeinflussung durch Politik, Medien und nicht zuletzt ökonomische Faktoren). Es kommt darauf an, auch diese unbewussten Mechanismen und Prozesse aufzudecken, sie zu thematisieren und sie – insofern sie einen negativen Einfluss auf die Menschen und die Gesellschaft haben – zu ändern (vgl. dazu die Werke von Erich Fromm).
Freud ist ein scharfer Religionskritiker. Gott ist für ihn eine Vaterfigur, von der sich der Mensch emanzipieren, befreien muss, um frei und selbständig zu sein. Freud bestimmt Religion als eine Zwangsneurose, die auf der Verdrängung ungelöster Triebkonflikte basiert. Die religiösen Rituale werden von ihm ebenfalls als zwangsneurotische Handlungen gedeutet.
5. Der Existentialismus.
Auch wenn der Existentialismus schon mehrmals für tot erklärt wurde und auch wenn über ihn heute nicht debattiert wird, hat er tiefe Spuren im Bewusstsein der Menschen aus unserer Kultur hinterlassen. Die menschliche Existenz ist endlich, vergänglich und kontingent (zufällig).
Angesichts des irgendwann kommenden eigenen Todes sieht der Einzelne in seinem Leben keinen Sinn. Seine Pläne, Ziele und Hoffnungen verlieren angesichts dieses irgendwann kommenden Ereignisses ihre sinnstiftende Rolle. Nach Albert Camus können auch übergreifende Werte und religiöse Inhalte dem Einzelnen keinen Lebenssinn geben. In dieser Sinnlosigkeit erfährt der Einzelne sein Leben als absurd.
Nach Camus soll das Absurde ausgehalten werden. Dieses Aushalten bedeutet Freiheit; der Mensch ist davon befreit, sein Leben nach einem bestimmten Sinn auszurichten und kann dadurch in höherem Maße über sich selbst verfügen und seine Lebensintensität in der Gegenwart steigern. Das negative Gefühl der Absurdität kann somit in ein positives Gefühl des Glücks umgewandelt werden.
Albert Camus demonstriert das am Schicksal des Sisyphos. Sisyphos ist von den Göttern dazu verdammt, einen Stein auf einen Berg hinaufzurollen. Der Stein rollt kurz vor dem Gipfel immer wieder nach unten. Durch das bewusste Aushalten der Absurdität seiner Existenz wird Sisyphos nach Camus zum Herrn seines Schicksals. Er verfügt über sich selbst. Deshalb kann man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Martin Heidegger zufolge wird durch die gedankliche Vorwegnahme des eigenen Todes, durch das „Vorlaufen in den Tod“, dem Einzelnen nicht nur seine Begrenztheit und Vergänglichkeit, sondern auch seine Einzigartigkeit bewusst. Es wird ihm bewusst, dass er sterben muss und dass sein Tod jederzeit eintreten kann. Er weiß, dass er nicht unbegrenzt viel Zeit hat, um seine Pläne zu verwirklichen. Er entscheidet sich daraufhin, in der ihm verbliebenen Zeit etwas zu tun, was für ihn wichtig ist, die von ihm gewählten Möglichkeiten zu verwirklichen. Er versucht, ein eigentliches Leben zu führen. Dem Einzelnen eröffnen sich somit neue Möglichkeiten zu denken und zu handeln. Er entwirft sich nach seinen je eigenen Möglichkeiten vom Tod her.
Die Existentialisten betonen, dass trotz der Endlichkeit, Vergänglichkeit, Kontingenz und Absurdität der menschlichen Existenz ein sinnvolles oder glückliches Leben möglich ist und dass dieses Leben ohne Gott und ohne Transzendenz gelebt werden kann.
Die hier nur skizzenhaft beschriebenen fünf geistigen und gesellschaftlichen Strömungen bilden die Säulen unserer (Leit-)Kultur. Wer unsere Kultur begreifen möchte, muss diese Strömungen kennenlernen.
Im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte heißt es:
Wer sich in Deutschland und Europa integrieren oder gar assimilieren möchte, muss diese fünf Strömungen nicht nur oberflächlich kennenlernen, sondern ihre Inhalte verinnerlichen.
Der Artikel erschien zuerst bei Cuncti.