Das Télos der Politischen Philosophie von Karl Marx
Professor Dr. Günter Buchholz
Alexander Ulfig fasst die Ergebnisse seines Aufsatzes „Das Desiderat des Marxismus“ wie folgt zusammen:
Das Fehlen einer moralisch-ethischen Grundhaltung ist für weite Teile der linken Denktradition konstitutiv, und zwar seit den Anfängen dieser Denktradition bei Karl Marx und Friedrich Engels. Beide Denker haben es versäumt, ihre Lehre auf ethische Fundamente zu stellen oder wenigstens ethische Aspekte zu berücksichtigen. Das hatte und hat bis heute verheerende Folgen für eine sich links gebärdende Politik. Nur eine Umorientierung, eine tiefgreifende Änderung des linken Selbstverständnisses könnte hier Abhilfe schaffen.1

Ich werde im folgenden Gedankengang versuchen zu überprüfen, ob und inwieweit diese Aussage widerlegt oder bestätigt werden kann.
Karl Marx, der 1818 in Trier geboren wurde und der 1883 in London starb, war, obwohl er sich selbst als Kritiker der Philosophie sah, dennoch ein philosophischer Geist, der seine Wurzeln ebenso in der antiken Philosophie hatte, nicht zuletzt in Aristoteles, wie in der neuzeitlichen Philosophie der Aufklärung, besonders im Werk von Georg Wilhelm Friedrich Hegel.2
Tatsächlich ist das ungefähr bis zur Revolution von 1848 entstandene Marxsche Frühwerk, in dem er – im Anschluss an Ludwig Feuerbach – von einer Kritik der Religion zur Kritik der Philosophie (Hegels) übergeht, der Ausgangspunkt für eine neuartige Philosophie der Praxis geworden.3
Daher schreibt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik:
Ohne Zweifel ist Marx einer der bedeutendsten politischen Philosophen unserer abendländischen Tradition, aus meiner Sicht der wohl (…) bedeutendste seit Platon.4
Das philosophische Marxsche Frühwerk fand nach der Revolution von 1848 mit dem Übergang zur Kritik der Politischen Ökonomie in Gestalt der „Theorien über den Mehrwert“ und der „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ seine wissenschaftliche Konkretisierung in seinem Hauptwerk, dem „Kapital“, dessen Erster Band 1867 erschien.
Das Werk kann sowohl aus philosophischer, wie aus soziologischer und aus ökonomischer Perspektive gelesen und wahrgenommen werden, so wie Joseph Alois Schumpeter das offenbar getan hat, aber tatsächlich bleibt – nach Schmied-Kowarzik – die Einheit seines Denkens über sein gesamtes Werk hinweg gewahrt. Diese Einheit ergibt sich nicht zuletzt aus dem Ziel des Marxschen Denkens, mit dem er philosophiegeschichtlich nicht alleine stand.
Marx ging es vor allem um die Erkenntnis der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft – zu einer Zeit, in der die gesellschaftliche Ordnung insgesamt noch eine ständisch geprägte Gesellschaft war, in der sich die industriell-technologische Revolution in Europa erst noch durchsetzen musste, und in der der Adel bis 1918 politisch noch eine bedeutende politische Rolle spielte.
Das Marxsche Werk bietet jedoch keine Philosophie von allem. Aber das konnte im Kontext einer Philosophie der Praxis weder der Anspruch sein, noch war es in einer begrenzten Lebensspanne möglich.
So fehlte zum Beispiel eine ästhetische Theorie. Mit Blick auf die moderne abstrakte Kunst des frühen 20. Jahrhunderts versuchte sich Trotzki an dieser Aufgabe, aber Stalin unterdrückte den Suprematismus und setzte den „Sozialistischen Realismus“ durch. Erst in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts hat dann Theodor W. Adorno eine Ästhetische Theorie vorgelegt.5
Bis heute fehlt aber eine ausgearbeitete marxistische Moralphilosophie. Alexander Ulfig sieht in dem Fehlen einer solchen Moralphilosophie eine Lücke. Hätte sie nicht bestanden, dann hätte sich aus seiner Sicht eine Moralphilosophie womöglich positiv orientierend, also zum Guten hin, auswirken können, und sie hätte vielleicht die stalinistischen Verbrechen gehemmt oder verhindert, nämlich die ungeheure Gewalt gegen die Bauernschaft, das Lagersystem des Gulag mit seiner Zwangsarbeit, und die berüchtigten Moskauer Prozesse im Jahre 1938, mit denen Stalin die Bolschewiki (d. h. die von Lenin geführten „Mehrheitler“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands) von 1917 vernichtete. Ob sich allerdings eine psychopathische Persönlichkeit wie die Stalins davon hätte beeinflussen lassen, das dürfte äußerst zweifelhaft sein.6
Fällt heute in öffentlichen Diskussionen der Name von Karl Marx, dann wird die Wahrnehmung dessen, wofür Marx angeblich steht, rückblickend durch diese historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägt, die im kollektiven Bewusstsein noch präsent sind, während die Erinnerung an seine eigentliche Wirkungsepoche, das 19. Jahrhundert, weitgehend verblasst ist. Aber es gibt natürlich wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge, nämlich zwischen seinem Tod und dem Beginn des I. Weltkriegs, aber als Kontinuität und Bruch.
Die unsere heutige rückblickende Wahrnehmung diesbezüglich prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, schlagwortartig benannt, heißen: Arbeiterbewegung, die russischen Revolutionen von 1905 und 1917, die deutsche Novemberrevolution von 1918, der russische Leninismus, der Stalinismus, der Poststalinismus und die Existenz der Sowjetunion als Weltmacht bis 1989, sowie die jüngere chinesische Geschichte ab 1911, dem Ende des chinesischen Kaiserreichs, dann die kriegerisch-revolutionäre Vorgeschichte der Volksrepublik China, die 1949 durch die KP Chinas unter Mao Tse-tung gegründet wurde, und die folgende dynamische Entwicklung Chinas seit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.7
Diese im Rückblick erscheinende Wirkungsgeschichte führt im kollektiven Bewusstsein zu einer Wahrnehmung, der das Originale gar nicht mehr in den Blick gerät, oder die dieses Originale verzerrt rezipiert, welches vollständig der Epoche von der Großen Französischen Revolution (1789) bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (1914) angehört. Sie heißt nach Erich Hobsbawm: „Das lange 19. Jahrhundert“, dem „das kurze 20. Jahrhundert“ folgte – von 1914 – 1991. Nicht aus der Perspektive eines im „kurzen 20. Jahrhundert“ wirkungsgeschichtlich geprägten und dadurch verzerrten Rückblicks soll deshalb im folgenden argumentiert werden, sondern, dem Zeitpfeil folgend, aus der Perspektive der Entstehung und Entwicklung des Marxschen Denkens. Sperbers Biographie ist ein hierfür vorzüglich geeigneter Text, weil er Leben und Werk in den Lebensumständen der Zeit in unsere Vorstellung zurückholt. Sie lässt m. E. die damalige Zeit und die Lebensumstände, die mit ihr verbunden waren, ebenso hervortreten wie den persönlichen Entwicklungsprozess, in dem sich Leben und Werk verschränkten.8
Intention und Richtung des Marxschen Denkens können nur aus seiner frühen Rezeption und Kritik der Philosophie Hegels verstanden werden. Es geht hierbei um die als „Vormärz“ bezeichnete Periode zwischen der Französischen Revolution von 1830 und dem Tode Hegels 1831 bis zum Ende der Revolution von 1848.
Die Schüler und Anhänger Hegels bildeten im Meinungsstreit Flügel aus. Marx gehörte zum linkshegelianischen Flügel, dem es um ein philosophisches Verständnis der christlichen Religion ging. Das war damals ein hochpolitisches Thema, weil die Religion und deren intellektueller Ausdruck, die Theologie, zugleich die ständestaatliche Ordnung der Zeit, die politische Herrschaft des Adels, legitimierte. Wer immer hieran rührte und dieses heiße Eisen anzufassen wagte, der wurde politisch ins Abseits gestellt, ausgegrenzt und verfolgt. Die Karriere war damit zu Ende. Insbesondere der preußische Despotismus war in dieser Hinsicht konsequent hart und unnachgiebig, was neben dem Militarismus zum schlechten preußischen Ansehen erheblich beigetragen hat.
Der erste Schritt war das von David Friedrich Strauß 1835 erschienene Buch „Das Leben Jesu“, das die theologische Heilsgeschichte des Neuen Testaments historisierte, indem es nach den Tatsachen fragte. Damit war prinzipiell der Übergang vom Glauben zum Wissen vollzogen worden. In einem zweiten Schritt konnte die Philosophie Ludwig Feuerbachs hieran anschließen. Es ging ihm um das „Wesen des Christentums“ (Leipzig 1841), und darin nicht um eine theologische Deutung, sondern um eine Erklärung der Religion.
Er fand eine anthropologische Antwort, die jene der Theologie umkehrte, oder die sie auf die Füße stellte. Danach schafft sich der Mensch selbst seine Religion. Das Diesseits ist das Primäre, und das Religiöse ist das von diesem abgeleitete Phänomen.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, wird Marx später in den Feuerbachthesen schreiben. Marx war nun derjenige Feuerbachianer, der diese auf die Religion bezogene Denkfigur auf die Philosophie übertrug, und die Philosophie seiner Zeit war eben die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem Zeitgenossen Goethes. Schlüsseltexte hierfür sind die Texte: (a) „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, geschrieben Ende 1843 und Januar 1844, sowie (b) die im Frühjahr 1845 formulierten „Thesen über Feuerbach“. Hier, in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung, formuliert Marx:
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.9
Folglich postuliert Marx hier mit bewußtem Anklang an Kant seinen kategorische Imperativ, dass der Mensch kein erniedrigtes, kein geknechtetes, kein verächtliches Wesen sein soll. Und dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse umgeworfen werden sollen, die dem entgegenstehen.
Wer nicht erniedrigt, nicht geknechtet und nicht verachtet lebt, der lebt in Freiheit und Würde.
Wer in Freiheit und Würde lebt, und wessen materielle Lebensgrundlagen gesichert sind, der kann, abgesehen von Wechselfällen des Schicksals, ein „gutes Leben“ im Sinne von Aristoteles führen, ein Leben mit dem Ziel der „Eudaimonie“, ein Leben vor dem Tode, das ein glückliches, weil gelingendes Leben zu werden vermag (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik).
Aber dafür sind solche gesellschaftlichen Verhältnisse Voraussetzung und Ziel, die Menschen eben nicht erniedrigen, knechten oder der Verachtung überlassen. Das moralische Motiv revolutionärer Praxis im Sinne von Marx verdankt sich der Verneinung, der Beseitigung, der Aufhebung schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse, aber diese bleibt lediglich ein Mittel zum Zweck.
Dieser aber heiligt m. E. eben nicht jedes Mittel, wie bei den moralischen Nihilisten, die wirkungsgeschichtlich im 20. Jahrhundert nicht nur in der Arbeiterbewegung, sondern in der ganzen Gesellschaft die Oberhand gewannen. Diesem Umstand oder der Dialektik der Aufklärung, wie Horkheimer/Adorno das nannten, sind jene Exzesse geschuldet, die das Bild dessen, was im Original gemeint war, bis heute und bis zur Unkenntlichkeit verzerren.
Wenn ich hier postuliert habe, dass der Zweck nicht jedes Mittel heiligt, dass also ein guter Zweck keineswegs die Anwendung auch aller schlechten und schlechtesten Mittel erlaubt, dann ist damit der Punkt getroffen, der das eigentliche Problem darstellt. Denn: Dieses Postulat muss moralphilosophisch begründet, anerkannt, durchgesetzt, verteidigt und in der Praxis gelebt werden, im Sinne einer lebendigen Kultur, wenn Moral als etwas Reales erscheinen soll, etwas Reales, das fähig ist, moralisch verwerfliches Handeln zu blockieren. Und es muss sich dabei gegenüber der hohnlachenden und zynischen Negation des moralphilosophischen Nihilismus behaupten, der jedes Mittel recht ist, wenn es nur zum Ziele führt. Der Triumph dieser Einstellung gilt als modern, ist jedoch in den Konsequenzen barbarisch, wie das Zeitalter der Extreme (Hobsbawm) weltweit demonstriert hat.
Dieses Problem betraf und betrifft allerdings die gesamte Gesellschaft, nicht etwa nur die Arbeiterbewegung, oder die Linke. Alexander Ulfig hat diesen Punkt also berechtigterweise aufgegriffen, und auch seine Kritik erscheint nicht als verfehlt, aber sie greift zu kurz, weil die Frage, ob und inwieweit der moralphilosophische Nihilismus in die Schranken gewiesen werden kann, eine gesamtgesellschaftliche Frage ist.
Die Menschen sind nach Aristoteles ein „zoon politikon“, ein gesellschaftliches Wesen. Wir leben als menschliche Individuen wohl naturgemäß sowohl in der Gemeinschaft meist familialer Gruppen ebenso wie in einer größeren Gesellschaft, nie aber völlig isoliert als wären wir geborene Eremiten.
In unserer Neuzeit sind wir als Ergebnis eines historischen Individuationsprozesses Mitglieder einer Gesellschaft von Individuen. Das heißt, wir sind weder einer Gesellschaft noch Kollektiven (z. B. Ständen) vollständig untergeordnet, wie noch im Absolutismus und im modernen Totalitarismus. Und wir sind als Individuen nicht in der fiktiven Art eines Robinson Crusoe isoliert, sondern leben zumindest in lockeren Beziehungsstrukturen.
Ist es nun also zutreffend, Moralphilosophie als Desiderat des Marxismus zu bezeichnen, wie Alexander Ulfig das getan hat?
Ich denke: Ja und nein.
Ja, nämlich insoweit, als sich in der Wirkungsgeschichte des 20. Jahrhunderts sowohl in der politischen Linken wie in der politischen Rechten ein moralischer Nihilismus durchsetzte, und das mit den furchtbarsten Folgen. Nach dem II. Weltkrieg wurde dieser zwar für mehrere Jahrzehnte zurückgedrängt, aber in den letzten beiden Jahrzehnten setzt sich der moralische Nihilismus in der Tendenz erneut und immer mehr durch.
Nein, nämlich insoweit, als die nachweisbaren Intentionen und Motive bei Marx und in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts sehr wohl ein moralisches Fundament hatten, wenn auch nur in Gestalt eines skizzenhaften Ansatzes. Dieser jedoch zielt auf ein positives Ziel, nämlich auf die politische Ermöglichung eines „guten Lebens“ nicht nur für eine Oberschicht, sondern für alle Gesellschaftsmitglieder. Marx geht bezüglich der Klassenstruktur der Gesellschaft zwar über Aristoteles hinaus, schließt aber bezüglich des Zieles, des télos, an ihn an.
Die Frage nach einer handlungsleitenden Moral im Kontext Marxschen Denkens ist offen und noch zu beantworten, aber sie ist entwicklungsfähig, und es wird m. W. daran gearbeitet.