Studenten – das waren für mich in meiner Jugend progressive Menschen, denen es um Ideale wie Gerechtigkeit und Demokratie ging. Menschen, die dem bundesrepublikanischen Mief der fünfziger Jahre ein Ende bereiteten, gegen den Krieg in Vietnam protestierten und das Schweigetabu über die Nazizeit aufbrachen. Dass viele von ihnen einer Revolutionsromantik frönten und bisweilen verschwurbelte Polittheorien von sich gaben, schmälerte in meinen Augen nicht ihren Idealismus und die positiven Veränderungen, die sie in diesem Land bewirkten.
Es traf mich daher unvorbereitet, als ich vor etwa fünfzehn Jahren damit begann, mich für meine Krimiserie aus den zwanziger Jahren mit der Weimarer Republik auseinanderzusetzen, und dabei feststellen musste, dass die Studenten jener Zeit mehrheitlich militant, nationalistisch und antidemokratisch eingestellt waren.
Sie fochten für ein revanchistisches Denkmal auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelms-Universität (der jetzigen Humboldt-Uni) für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Studenten. Sie waren zu einem großen Teil antisemitisch. An der Technischen Hochschule Hannover organisierten sie mit mindestens wohlwollender Duldung der Professoren ein Kesseltreiben gegen Professor Theodor Lessing, der es gewagt hatte, Hannovers Ehrenbürger Hindenburg vorzuwerfen, er habe mehr Menschen in den Tod geschickt als Alexander, Cäsar und Attila; sie boykottierten seine Vorlesungen, beschimpften ihn als dreckigen Juden, bedrohten ihn, bewarfen ihn mit Steinen, trieben ihn stundenlang mit Knüppeln bewaffnet durch die Stadt und erreichten letzten Endes, dass er, zermürbt von der monatelangen Hetze, seinen Hut nahm.
Und wir wollen bitte nicht vergessen, dass es Studenten waren, die 1933 in eigener Regie die Bücherverbrennungen in ganz Deutschland vorbereiteten, organisierten und durchführten, beginnend mit der Plakataktion „Wider den deutschen Ungeist“ bis zu den rituellen „Feuersprüchen“. Man muss sich das klarmachen: Studenten, die angetreten waren, das Wissen ihrer Zeit zu studieren, errichteten für eben dieses Wissen einen Scheiterhaufen.
Dies alles taten sie, weil sie wussten, dass sie mit dem Zeitgeist schwammen und der herrschenden Ideologie das Wort redeten. Weil sie sich der Rückendeckung durch Professoren, einen großen Teil der Medien und die „feineren Kreise“ der Gesellschaft sicher sein konnten.
Dabei – und das lernt man bedauerlicherweise nicht im Geschichtsunterricht in der Schule – sahen sie sich keineswegs als reaktionär, im Gegenteil: Sie fühlten sich als Revolutionäre. Hatten sie doch nicht die Rückkehr des Kaisers im Sinn, sondern wollten die alte Ordnung hinwegfegen, die schwerfällige Weimarer Demokratie und die Andersdenkenden, die der erhofften neuen Welt im Wege standen.
Nur mit diesem Wissen im Hinterkopf lässt sich verstehen, was augenblicklich an deutschen Hochschulen abläuft.
Etwa wenn Studenten an der Humboldt-Uni Berlin Gesinnungskontrolle ausüben und einen unliebsamen Professor im Internet stalken (anonym natürlich), weil er Machiavelli ihrer Meinung nach „mit sehr viel Sympathie behandelt“ („Münkler-Watch“). Wenn eine Professorin öffentlich zu Straftaten aufruft, beispielsweise unliebsame Seiten aus Büchern herauszureißen oder Veranstaltungen, die einem nicht passen, kollektiv zu stören. Wenn eine Dozentin der Technischen Universität Berlin einen Studenten zwingen will, „in gendersensibler Sprache“ zu schreiben, andernfalls erhalte er Punktabzug. Wenn Studenten tumultartige Szenen veranstalten, weil sie Hegel, Rousseau oder Kant nicht im Unterricht behandelt wissen möchten, weil es einfacher ist, etwas aufgrund von aufgeschnappten Vorurteilen zu verdammen, statt sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Kurz: Wenn Genderindustrie und Gutmenschentum die ehemaligen Tempel des Wissens dominieren.
Es handelt sich dabei erneut um eine totalitäre, antidemokratische und wissenschaftsfeindliche Bewegung, die sich selbst als revolutionär und progressiv begreift. Es handelt sich um dasselbe feige Mitläufertum, das nur in einem Umfeld gedeihen kann, das solche Demagogie schützt und ermuntert.
„Zensoren und Bücherverbrenner beanspruchen hohe Ideale für sich und geben sich als Hüter von Moral und Tugend. (…) Daran hat sich auch in unserer Gegenwart wenig verändert, nur dass sich unsere Definitionen von Tugend oder Moral verändert haben“,
schreibt der Historiker Hans J. Hillerbrand in dem Buch Verfemt und verboten.
Und eben weil ich mich ausgiebig mit der Weimarer Republik beschäftige und daher weiß, welche Konsequenzen es beispielsweise für Albert Einstein hatte, wenn feindlich gesinnte Kollegen seine Arbeit als „jüdische Physik“ denunzierten, gruselt es mich, wenn heute dieselbe Sorte Scharlatane in den akademischen Zirkeln von „männlicher Wissenschaft“ schwafeln.
Das Schlusswort überlasse ich einem Mann, der berufener ist als ich, den Universitätsbetrieb zu kritisieren, einem Mann, der ähnlich angefeindet wurde wie Theodor Lessing, nämlich Georg Friedrich Nicolai, dem in der Weimarer Republik wegen seiner pazifistischen Auffassung und seiner Kritik am Sozialdarwinismus vom Senat der Berliner Universität die Lehrbefugnis entzogen wurde.
In der Weltbühne (16. Jg. 1920, 2. Halbjahr, S. 545-554) schreibt Georg Friedrich Nicolai unter dem Titel Reaktion und Universität:
„Auch der treueste Freund deutschen Wesens muss resigniert schweigen, wenn er die brutale Intoleranz sieht, mit der die cives academici die anders denkenden Minoritäten niederschreien oder auch wohl niederschlagen. Man kann je nach Universität diese reaktionäre Mehrheit unter den Studenten auf 90 bis 95, unter den Professoren auf 95 bis 100 Prozent schätzen, darf dabei jedoch nicht vergessen, dass nur ein verschwindender Bruchteil, vielleicht einer unter zehnen, überhaupt politisch interessiert ist. Der Rest treibt einfach aus Bequemlichkeit in dem jetzt so breiten Fahrwasser der Reaktion. (…) Der Durchschnittsstudent und –professor ist eben kein aktives zoon politikon (…) und beschränkt sich darauf, zu jener kompakten Majorität zu gehören, die Ibsen so lebenswahr und Le Bon so gewissenhaft analysiert hat.
Friedrich der Große wusste schon Bescheid, als er meinte, Professoren verteidigten alles, was man ihnen zu verteidigen befehle: sie verteidigen in katholischen Ländern den Papst und in evangelischen den Luther; sie verteidigen in Monarchien den König und in Republiken die Demokratie; sie verteidigen das Brot, wie es gebacken wird, und wenn man dem Volk Stroh statt Korn gibt, so ist „Strohmehl“ das leuchtende Schiboleth moderner Wissenschaft.
Vor hundert Jahren gehörten Studenten und Professoren noch zur aufsteigenden Volksklasse, (…) heute sitzen sie auf leidlich bequemen Stühlen.
Man braucht den Wissenschaftlern nicht übel zu nehmen, dass sie Menschen geblieben sind, verstrickt in allzu Menschlichem. Aber man kann und muss ihnen verdenken, wenn sie die Wissenschaft, die ihrer Natur nach Wahrheit bedeuten sollte, mit Bewusstsein zur Unwahrheit und zur Lüge benutzen.
Nicht weil die Wissenschaftler reaktionär sind, muss man sie tadeln, sondern weil sie zulassen, dass ein zur Wahrheit bestimmtes Instrument zu einem Instrument der Unwahrhaftigkeit gemacht wird.“
Der Artikel erschien zunächst im Blog von Gunnar Kunz:
Cives Academici